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 Lesedauer: 4 Minuten

Die Augen der letzten Generation

«Das geht gar nicht!», ist ein Satz, den ich derzeit häufig höre. Sachbeschädigung geht gar nicht! Kunstbeschädigung geht überhaupt nicht! Meisterwerke besudeln, ein absolutes No-Go! So höre ich aus unterschiedlichen Richtungen, selbst von solchen, die in ihrer Jugend Anti-Establishment waren.

Die Klimajugend macht also augenscheinlich etwas richtig! Sie hat einen Weg gefunden, breit zu erregen und auf sich aufmerksam zu machen. Mit Autobahnstreiks und vor allem Museumsaktionen in London, Madrid oder Dresden gelingt, was zahllose Protestaktionen vor Ölraffinerien, Firmensitzen oder an Pipelines nicht bewirken konnten: dass wir nämlich hinschauen.

Das geht gar nicht

Wenn Protestgruppen wie «Letzte Generation», «Extinction Rebellion» oder «Ende Gelände» entgegenschallt, Sachbeschädigung und Verkehrsstörung gehe nicht, können sie erwidern: Planetenbeschädigung geht schon gar nicht! Und was ist die Zerstörung eines Monet gegen die Zerstörung unserer Zukunft?

Ziviler Ungehorsam als partikularer Rechtsbruch, sagt der Philosoph und Theologe Jürgen Manemann («Revolutionäres Christentum»), sei gerechtfertigt, wenn es darum gehe, «das Recht auf Unversehrtheit des Lebens für zukünftige Generationen zu schützen».

«Solange wir Formen des zivilen Ungehorsams in unserer Gesellschaft wahrnehmen und immer wieder neu damit konfrontiert sind, leben wir in einer wirklich reifen demokratischen Kultur», sagt der Philosoph, der selbst aktives Mitglied von «Extinction Rebellion» ist (vor einem Jahr war Manemann Gast in meinem Podcast TheoLounge).

Das Gelingen der Aktionen von «Letzte Generation» ist die Empörung der Bürger und gleichzeitig deren Entwaffnung. Man kann, strenggenommen, nichts gegen Ketchup und Brei auf Kunst einwenden, ohne gleichzeitig zuzugeben, dass man entweder den Ernst der Lage nicht begreift oder aber gefühlsblind ist.

Eine vergleichbare Aktion war vor rund 55 Jahren das Anzünden eines Schmetterlings durch den Theaterregisseur Peter Brook. Wolfgang M. Schmitt hat in seinem Podcast «Die neuen Zwanziger» auf diese Parallelaktion zur aktuellen Museumsstürmerei von «Letzte Generation» hingewiesen.

Der brennende Schmetterling

Peter Brook liess bei einer Aktion 1966 im Londoner Aldwych Theatre (in dem Stück «US») lebende Schmetterlinge entweichen und den letzten anzünden. Das Publikum war vollkommen entsetzt darüber. Die Leute fragten: Wie kann er nur?

Brook konnte entgegnen: Ihr weint über einen toten Schmetterling, was aber ist mit der Hölle in Vietnam, den unzähligen Menschen, die im Krieg verheizt werden? Später sagte der Regisseur, es habe damals im Theater lediglich ein Stück Papier gebrannt.

In der globalen Klimaerhitzungskatastrophe verbrennen tatsächlich Millionen Tiere Jahr für Jahr: Schmetterlinge, Rehkitze, Koalabären. Man denke etwa an die immer heftiger werdenden kalifornischen Brände oder die apokalyptisch anmutenden Flächenbrände in Australien.

Bei der von Juni 2019 bis März 2020 landesweit tobenden Brandsaison verbrannte in Australien schätzungsweise eine Milliarde Tiere, Schmetterlinge und andere Insekten nicht mitgerechnet. Es übersteigt das Fassliche, unsere Fähigkeit des Mitgefühls kommt an Grenzen.

Die angstvollen Augen, eindringlich-bebenden Stimmen und die Entschlossenheit der jungen Aktivist:innen aus den Aktionen von «Letzte Generation» – am Anfang standen übrigens Hungerstreiks fürs Klima – brennen sich ein. Ein heiliger Ernst und eine heilige Entschlossenheit sind spürbar.

Die Klimajugend hat offenbar etwas begriffen, das sie radikal herausgerissen und in gewissem Sinn befreit hat: von der individuellen Selbstsorge.

In der globalen Klimaerhitzungskatastrophe geht es vor dem Verstehen (des ohnehin Unbegreiflichen) um das Hören, Wahrnehmen und Handeln. Mit starken Aktionen provozieren Aktivist:innen Aufmerksamkeit und moralische Entrüstung.

Bei genauerem Hinsehen sind ihre Handlungen gar nicht so zerstörerisch, wie es scheint: Die attackierten Bilder hatten schützende Glasscheiben, Schmetterlinge sind aus Papier. Bei der Entrüstung schwingt oft auch Hypokrisie mit. Man regt sich über etwas masslos auf und zuckt bei viel Schlimmerem mit der Achsel.

Bei den Museumsaktionen von «Letzte Generation» wurden keine Kunstwerke zerstört. Es waren symbolisch Anschläge. Fatal freilich wäre, wenn Nachahmer den Schluss daraus zögen, mit Attacken gegen Kunst etwas für’s Klima zu tun.

Käme es in einer weiteren Eskalationsstufe des Klimaprotests zu tatsächlicher Zerstörung von Kunstwerken oder würden gar Anschläge auf Menschen verübt, wäre das Feld des gerechtfertigten zivilien Ungehorsams überschritten. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Radikalisierungen entgegenzuwirken.

Statt die Aktionen als «Angriff auf die Freiheit» («Zeit») misszuverstehen, so als ob wir die Freiheit hätten, unseren Planeten weiterhin zu zerstören; statt gar nach gesetzlichen Verschärfungen zu rufen, wodurch man Artikulationsräume politischen Widerstands einengen und viele erst Recht in die Radikaliserung treiben würde, sollten die Aktionen als das verstanden werden, was sie sind: verzweifelte Weckrufe einer jungen Generation, der die Zukunft genommen wird.

Foto von Markus Spiske auf Unsplash

2 Kommentare zu „Die Augen der letzten Generation“

  1. Für den Hinweis auf die anregende Position von Jürgen Manemann bin ich sehr dankbar! Der Argumentation kann ich trotzdem nicht zustimmen.
    Das großartige und zugleich furchteinflößende am Menschen ist gerade seine Freiheit – und die reicht so weit, dass der Mensch sich entschließen kann, die Erde, auf der er lebt, zu zerstören. Genau das tun wir gerade, obwohl wir um die Konsequenzen für uns wissen und obwohl uns klar ist, dass solches Handeln durch nichts zu rechtfertigen ist.
    Es nimmt nicht wunder, dass ein Aktivist von der Wirksamkeit seines Protests überzeugt ist. Ich sehe jedoch nicht, dass Vandalismus in den Museen dazu führt, dass Menschen weniger fliegen, auf das Auto verzichten oder weniger Fleisch konsumieren. Stattdessen debattieren wir intensiv über die Legitimität von Protestformen. Auch symbolische Gewaltakte bleiben ebendies: Gewalt gegen Kulturgut. Meine Aufmerksamkeit mögen die Aktivist*innen nun haben, an meinem Tun ändert das nichts – und von dessen Widersinnigkeit wusste ich, schon bevor Kartoffelbrei und Tomatensuppe an den Bildern heruntertropfte.
    Es gilt nun, die Freiheit des Menschen so einzuhegen, dass er sich selbst, seinen Mitmenschen und der Umwelt durch sein Tun weniger schadet. In den liberalen demokratischen Gesellschaften, in denen wir – Gott sei Dank! – leben, geht das nicht mit Erpressungsversuchen. Dahinter steckt ein autoritäres mindset, das mich erschreckt. Oder kurz gesagt: Dass der Mensch den Planeten zerstört rechtfertigt es eben nicht, dass Aktivist*innen Kunst angreifen!

    1. Danke für Ihren Kommentar!
      Ich gebe Ihnen Recht, das «großartige und zugleich furchteinflößende am Menschen ist gerade seine Freiheit». Gerade deswegen frage ich mich aber, ob es tatsächlich gilt, «die Freiheit des Menschen» (sozial- und umweltverträglich) «einzuhegen». Geht es nicht eher darum, die eigene Freiheit wieder zu erlangen, und zwar gegenüber toxischen Gewohnheiten und Lebensformen, von denen wir genau wissen, wie schädlich sie sind? Dass es uns so schwerfällt, auf unnötige Flugreisen, übermässigen Fleischkonsum etc. zu verzichten, wie sie schreiben, ist in meinen Augen ein Zeichen von Unfreiheit, nicht von Freiheit.
      Ob nun die Aufmerksamkeit auf Aktionen oder von ihnen her auf die Botschaft überspringt, lässt sich nicht leicht sagen. Manche werden vielleicht aufgerüttelt und aus lethargischen Haltungen herausholt. Und ob die Aktivist:innen von der Wirksamkeit ihres Protests überzeugt sind, ist in meinen Augen auch nicht so klar. Ich sehe hier eher Verzweiflung darüber, wie wenig passiert ist. Von Vandalismus zu reden, scheint mir jedenfalls unzutreffend, weil die Aktionen bislang im Bereich des Symbolischen verblieben sind und tatsächliche Zerstörungen bisher vermieden wurden. Hoffen wir, dass es so bleibt!

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