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Der Groove stimmt nicht mehr

«Wie hältst du’s mit der Kirche?»: Die sechste deutsche Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung stellt leicht abgewandelt die Gretchenfrage – und erhält eine faustische Antwort. Nach ihr schreitet die Säkularisierung unaufhaltsam voran.

Erstmals erhalten wir ein Post-Corona-Bild

Der Erhebungszeitraum der sechsten repräsentativen Umfrage zur Kirchenmitgliedschaft, kurz KMU6, war von Oktober bis Dezember 2022. Die Studie ist mithin die erste grosse deutsche Religionsstudie, die mit Nach-Corona-Zahlen arbeitet. Das Sozialforschungsinstitut Forsa stellte im Auftrag der Deutschen Evangelischen Kirche insgesamt 5282 Personen über 500 Fragen.

«Was fällt Ihnen ein, wenn Sie ‹evangelische Kirche› hören?», «Wie verbunden fühlen Sie sich Ihrer Kirchengemeinde vor Ort?», «Wie häufig besuchen Sie Andachten oder Gottesdienste?»

Medien bringen die jetzt veröffentlichten Teilergebnisse so auf den Punkt: «Kirche und Religiosität verlieren an Bedeutung» (SWR), «Bindung an Kirche und Religion nimmt rasant ab» (Deutschlandfunk) oder «Gesellschaft wendet sich von Religion ab» (Tagesschau). Für Anfang 2024 sind weitere Zahlen und detailliertere Auswertungen angekündigt.

Die wichtigsten Ergebnisse

Gemäss der Umfrage, bei der erstmals auch Katholiken und Säkulare befragt wurden, sind nur noch 13 Prozent der deutschen Bevölkerung kirchlich-religiös im Sinne von eng verbunden; 25 Prozent sind religiös-distanziert.

Wenn die Entwicklung in diese Richtung weiter verläuft, wird sich die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche nicht erst 2060 halbieren, sondern bereits 2040. Aktuell hat die Deutsche Evangelische Kirche 19,2 Millionen Mitglieder.

56 Prozent, also mehr als jeder zweite Deutsche versteht sich als säkular. Hierzu zählen auch zahlreiche Kirchenmitglieder.

Mitglieder wie auch Konfessionslose erwarten von den Kirchen grundlegende Reformen. Unter den Kirchenmitgliedern verschwinden die konfessionellen Profile, was heisst: Deutschland ist in die postkonfessionelle Phase eingetreten.

Daten zu Religion und Spiritualtiät im Internet und in Social Media bleiben in der Teilveröffentlichung ausgespart und werden wahrscheinlich Anfang 2024 nachgereicht.

Paradoxe Erwartungen

Die Umfrage hat auch paradoxe Ergebnisse an den Tag gefördert: Religiosität spielt in unserer Gesellschaft eine immer kleinere Rolle. Trotzdem erwartet die Gesellschaft, dass die Kirchen im sozialen Bereich tätig bleiben, etwa in der Flüchtlingshilfe. Und gerade jene Menschen, die der Kirche fernbleiben, erachten das Feiern der Gottesdienste als wichtig.

Bereits vor einem Jahr prophezeiten die Theolog:innen Birgit Dierks und Valentin Dessoy:

«Noch fünf Jahre, dann kollabiert das System Kirche».

Ihre Empfehlung: die Auflösung «kreativ» gestalten. Anders die KMU. Sie sieht das Heil offenbar eher in der Konzentration auf Kernbestände, als in der Öffnung und Kreativität. Dies werfen ihr jedenfalls Kritiker:innen vor.

Zentrale Kritikpunkte

In Sozialen Medien ist jetzt ein Methodenstreit entbrannt. Kritiker:innen bemängeln erstens ein verengtes Religionsverständnis. Verkürzt gesagt erkennt man gemäss der KMU Christ:innen daran, dass sie eifrig Gottesdienste besuchen, beten und im Kirchenchor singen.

Tatsächlich ist es zugleich Stärke und Schwäche einer fünf Jahrzehnte überspannenden, etwa alle zehn Jahre durchgeführten Erhebung, dass Parameter um den Preis einer gewissen Starrheit so gestaltet sind, dass vergleichbare Ergebnisse herauskommen.

Zweitens steht der Vorwurf im Raum, die Studie orientiere sich einseitig am Säkularisierungsnarrativ.

Traditionsbewahrende Tendenz

Leistet die KMU einer Tendenz Vorschub, die einer liberalen Öffnung von Kirche entgegenläuft? Gemäss der Säkularisierungstheorie ist für die religiöse Einstellung hauptsächlich die Sozialisierung ausschlaggebend. Säkularisierungstheoretiker belegen in repräsentativen Umfragen mit überwiegend quantitativen Methoden, wie mit jeder neuen Generation Religion spärlicher an Kinder «vererbt» wird (die sogenannte «Kohortensäkularisierung» seit den 68ern) und die Institution Kirche mehr und mehr ausblutet.

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass sich im Niedergang befindliche Institutionen («Niedergangsnarrativ») auf Kernbestände konzentrieren sollen.

Methodenstreit

Individualisierungstheoretiker arbeiten dagegen eher stichprobenartig. Sie entdecken in qualitativen Interviews eine Fülle gelebter religiöser und spiritueller Formen. Dazu gehören sowohl institutionelle als auch individuelle Spielarten von Religion und Spiritualität.

Daraus lässt sich ableiten, dass sich die kirchlichen Aktivitäten stärker für die Pluralität heutiger Religiosität und Spiritualität öffnen sollten (vgl. der viel diskutierte Beitrag von Isabelle Noth und Stefan Huber kürzlich in der NZZ «Das Narrativ vom Niedergang der Kirchen ist irreführend – religiöse Erfahrungen nehmen zu»).

Albrecht Grözinger hebt im «Fokus Theologie»-Blog als Reaktion auf die KMU6 moderierend hervor:

«Wir dürfen nicht die Konzentration auf das ‹Eigentliche› und die ‹Öffnung nach aussen› als Alternative ansehen.»

Unterhalb des Radars

Gegenwartsphänomene wie mehrfachreligiös, «believing without belonging», postsäkular, interspirituell oder das Feld der Internetspiritualität und Netzreligion befinden sich weitgehend unterhalb des Radars konservativer Religionsumfragen.

Die im Vorjahr veröffentlichte grosse Studie «Religionstrends in der Schweiz» ermittelte wie die deutsche KMU eine fortschreitende «Kohortensäkularisierung». Beide Untersuchungen schreiben Phänomenen wie «believing without belonging» eine lediglich marginale Bedeutung zu.

Die Schweizer Studie basiert noch auf Vor-Corona-Zahlen. Das Thema digitaler christlicher Vernetzung klammert sie aus, stellt jedoch die zukünftige Berücksichtigung in Aussicht.

Digitale Mitgliederbindung

Die KMU6 streicht heraus, dass religiöse Kommunikation im «engeren, existenziellen» Sinne fast ausschliesslich privat, mit Angehörigen, Freunden und Vertrauten erfolge. Die Frage nach Religionsthemen im Internet taucht in der jetzt erfolgten Teilveröffentlichung der Kirchenmitgliedschaftstudie lediglich in einer Fussnote auf.

Deswegen lohnt ein Blick auf eine andere Erhebung: Die religionssoziologische Pilotstudie «Digital Communities». Die evangelische Zukunftswerkstatt «midi» brachte im Vorjahr diese Studie heraus, die erstmals christliche Influencer genauer unter die Lupe nimmt.

Generation Y und Z

Nach den Befunden dieser Studie, die vor allem die Followerschaft des grossen evangelischen Netzwerks Yeet untersucht, sind die Teilnehmenden vornehmlich Mitglieder einer Kirche (85,5 %), halten Kontakt zur Kirchengemeinde (69 %) und stufen sich mehrheitlich als spirituell/religiös ein (90,8 %).

Die Mehrheit der Influencer leistet nach Einschätzung der Autor:innen der midi-Studie einen «wichtigen Beitrag zur digitalen Mitgliederbindung». Es gelinge Influencern, «auf authentische Weise Glauben, Spiritualität und Religion so zur Sprache zu bringen, dass dies Resonanz findet.»

Im Netz würden zudem gerade jene Generationen erreicht, die im präsentischen kirchlichen Leben schmerzhaft vermisst würden: die Generationen Z und Y.

Neue christliche Sozialformen

Die midi-Studie kommt zu dem Schluss, dass sich im Netz neue «christliche Sozialformen» abzeichnen. Sie deutet diese als Ausdruck «gelebter Religion» unserer Gegenwart. Digitale Communities seien fluide Gebilde ohne grosse Verbindlichkeit, die strukturelle Löcher im kirchlichen Netz überbrücken.

«Im Lichte der Studienergebnisse scheint das christliche Influencing auf Social Media im Sinne einer ‹Liquid Church› ein kirchlicher Raum zu sein, der noch darauf harrt, ekklesiologisch aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Digitale Communities sind ein wesentlicher Mosaikstein einer ‹Liquid Church›.»

Eine Analogie alter und neuer christlicher Sozialformen besteht in der Mischung aus aktiver und passiver Beteiligung. Auch in der liquiden digitalen Kirche lassen sich Kern-Community, distanzierte Gemeinde und Randgemeinde unterscheiden, und neben Aktiven existiert auch dort eine weitaus grössere stille Followerschaft.

Aktive und stille Followerschaft

Das kurz vor Yeet gestartete RefLab hat 2022 ebenfalls eine Follower-Befragung durchgeführt. Ein zentrales Ergebnis der RefLab-Umfrage ist, dass vier von zehn Followern der Gruppe der sogenannten «Kirchendistanzierten» angehören.

Die Resultate der Interviews auf Facebook und Instagram ergaben, dass zirka 12 Prozent aus der Kirche ausgetreten sind und 29 Prozent zwar Kirchensteuern zahlen, aber nicht in Kirchen aktiv sind. Hochgerechnet auf die Followerschaft (Instagram, Facebook, X und YouTube) des seit vier Jahren bestehenden reformierten Labors ergaben die 2022 ermittelten Zahlen, dass zu diesem Zeitpunkt rund 40 Prozent der Abonent:innen «distanziert» waren (schätzungsweise 8’000).

Mittlerweile wurden RefLab-Podcasts zu Themen aus Religion&Spiritualität im Internet rund 800’000 Mal gestreamt (Nov. 2023).

Die Transformation in sich spüren

Gerade durch die Digitalisierung verändert sich unsere Gesellschaft fundamental. Wie die kommende Kirche aussieht, ist eine spannende Frage. Für Birgit Dierks und Valentin Dessoy ist der kritische Kipp-Punkt für die althergebrachte Kirchenkultur bereits überschritten. In provokativer Zuspitzung bringen sie vor:

«Wir haben aber als Kirche noch so viel Energie, dass wir diesen Auflösungsprozess des klassischen Kirchensystems nicht nur erleiden, sondern forcieren könnten.»

Wie ist das gemeint? Birgit Dierks veranschaulicht es am Beispiel eines Schmetterlings:

«In einer Raupe bilden sich zuerst vereinzelte Zellen, die vom System bekämpft werden. Später verklumpen die sich und dadurch entsteht dieser Transformationsprozess zum Schmetterling. Es braucht also einen Rahmen, wo sich Menschen, die Transformation schon in sich spüren, verbinden können.»

Liquid Church oder Liquidierung?

Es gibt mittlerweile Ansätze, Kirche insgesamt als Netzwerk zu betrachten, also Analysewerkzeuge der Akteur-Netw0rk-Theorie in Verbindung mit relationaler Soziologie auf das religiöse Feld anzuwenden. Kirche erscheint aus dieser Perspektive nicht als sakraler Dienstleister, sondern als Netz aus eigenwilligen, polyzentrisch vernetzten religiösen Akteuren. (vgl. David Plüss: «Die Konturen aktiver Religiosität» in der KMU 5).

Aus der Netzwerkperspektive besitzt Kirche schon immer eine flüssige Form.

Bereits Friedrich Schleiermacher beobachtete die Form des Fliessenden oder der «Circulation» als kennzeichnend für den Austausch über religiöse Fragen. Im intensiven Dialog verstärken sich Schwingungen. Menschen bestärken einander und regen einander spirituell an.

Der Geist lässt sich nicht managen, er weht.

Foto von Debby Hudson auf Unsplash

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