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 Lesedauer: 5 Minuten

Deine Stimme zählt!

Wir „wissen“ jetzt, dass Trump von seinem überehrgeizigen Vater in ein Weltbild gedrängt worden ist, in dem man entweder Gewinner oder Verlierer ist. Freilich auf einer materiellen Grundlage, mittels derer selbst einer wie Trump kaum verlieren konnte. Und wir wissen, dass Joe Biden private Tragödien – Autounfall mit Verlust von Ehefrau und Tochter, Krebskrankheit und Tod seines Sohnes – erlitten und überwunden, letztendlich sogar an ihnen und durch sie hindurch gewachsen ist. Aber wozu?

Was soll diese Frage? Ist doch gut, wenn sich Menschen für Politik interessieren. Oder? Aber ist es das wirklich? Echtes Interesse an Politik? Ich bezweifle das.

Die zweite Initiative begreife ich bis jetzt nicht wirklich.

Heute habe ich meine Unterlagen für die Abstimmung vom 29. November geöffnet. Wir stimmen über zwei eidgenössische und drei städtische Vorlagen ab, wählen den Stadtrat, den Gemeinderat und das Stadtpräsidium. Ich wusste aus dem Stand nicht, wieviele Sitze im Stadtrat oder Gemeinderat zu besetzen sind. Ich weiss nicht einmal genau, wie die Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen Stadt- und Gemeinderat aufgeteilt sind und welche Rolle dem Stadtpräsidenten zukommt. Bei den städtischen Vorlagen geht es zweimal um Baukredite für Schulhäuser und einmal um das Budget 2021 der Stadt Bern, das mit einem beachtlichen Defizit rechnet. National stimmen wir über die Volksinitiativen «Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt» und «Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten» ab. Mit der ersten Initiative, bekannt als KOVI – Konzernverantwortungsinitiative –, habe ich mich auseinandergesetzt. Die zweite Initiative begreife ich bis jetzt nicht wirklich.

Abgestimmt habe ich trotzdem erst recht!

Abgestimmt habe ich natürlich trotzdem. Dabei bin ich folgendermassen vorgegangen:

  1. Volksinitiativen: Zur Initiative «Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten» habe ich den Text aus dem Abstimmungsbüchlein gelesen. Er ist sehr ausgewogen. So ausgewogen, dass ich mich kaum entscheiden konnte. Ich habe dann das Info-Video des Bundesrats geschaut. Ich habe etwa folgendes verstanden: Die Initiative will, dass die Nationalbank und Pensionskassen nicht in Unternehmen investieren, die mehr als 5% ihres Umsatzes mit Kriegsmaterialen erwirtschaften. Die Gegner*innen bestreiten die Wirksamkeit dieser Bemühungen und betonen den wirtschaftlichen Schaden, den dies anrichten würde. Dieser Argumentation folge ich ja schon bei der KOVI. Und ich finde, einmal pragmatisch sein pro Abstimmung genügt. Also: Ihr kriegt meinen Idealismus!
  2. Stadtpräsidium: Hm, wähle ich den «Videothekar» und Corona-Massnahmenskeptiker oder den bisherigen Kandidaten? Das war einfach!
  3. Stadtrat: Viel zu viele, sehr, sehr lange Listen, die ausschauen, als hätte sie ein Buchhaltungsprogramm aus den Achtzigerjahren ausgespuckt. Aber zum Glück kenne ich eine Kandidatin und weiss, dass sie Sozialpolitik um Umweltschutz wichtig findet. Ausserdem ist sie kaum älter als ich. Die Liste nehme ich! (Ausgeschlossen, dass ich 80 Namen auf die freie Liste eintrage!)
  4. Gemeinderat: 2x die Kollegin, die ich kenne, zweimal die freundlich wirkende Dame vom Plakat am Bahnhof und dann noch auffüllen mit dem Stapi. Ist ja nur konsequent.
  5. Städtische Vorlagen: Schulhäuser finde ich immer gut. Und das Budget? Na, wenn ich Schulhäuser will… Aber schon wieder ein Defizit? Gibt’s nicht eh sowas wie Finanzausgleich? Also, konsequent bleiben: Wer Schulhäuser will, nimmt auch rote Zahlen in Kauf…

In 35 Minuten war ich durch. Bürgerpflicht erledigt. Briefmarke drauf. Bitte versteht mich richtig: Ich empfehle niemandem, es mir gleich zu tun! Ich hoffe, dass es viele Menschen gibt, die sich ihre Meinung solider gebildet haben als ich. Wirklich.

Engagement, das zählt

Ernsthaft auseinandergesetzt habe ich mich nur mit KOVI. Und glaubt man meinen Freunden, dann sogar mit dem falschen Ergebnis. Aber weshalb eigentlich? Weshalb ist er mir nicht wichtig, ob und wie die Schulhäuser in meiner Umgebung saniert werden und wie die Exekutive unserer Stadt zusammengesetzt ist? Weshalb höre ich zu den US-amerikanischen Wahlen stundenlang Podcasts, habe mindestens 2 Artikel täglich dazu gelesen, könnte aus dem Stand den Unterschied zwischen Senat und Repräsentantenhaus, das System der Electoral Votes erklären und im Schlaf alle Swing States aufzählen und weiss gleichzeitig nicht, wofür der Gemeinderat und wofür der Stadtrat wirklich zuständig sind?

Der US-Wahlkampf bietet uns ein Spektakel. Den alten Kampf zwischen Gut und Böse.

Das Zwei-Parteiensystem mag gänzlich ungeeignet sein, um ein gespaltenes Land mittels demokratischer Prozesse zu vereinen. Aber es leistet exakt jene Komplexitätsreduktion, die der quasipolitische Blockbuster braucht. Europapolitik, das deutsche, französische, italienische oder österreichische Politiksystem verblassen daneben.

Sicher: Die USA sind ein weltpolitisches Schwergewicht. Und es ist nicht egal, wie die Präsidentschaftswahlen ausgehen. Aber Demokratie lebt nicht von den personenzentrierten Scheinalternativen zwischen Gut und Böse, sondern von informierenden und involvierenden demokratischen Prozessen. Beide Volksinitiativen zeigen deutlich: Wir verfolgen wichtige Ziele, für die wir stabile europäische Beziehungen brauchen. Wie gerecht und wie nachhaltig unsere Politik sein wird, entscheidet sich nicht an unserem Interesse am US-Wahlkampf, sondern daran, ob wir informiert und gewissenhaft von unserer Stimme Gebrauch machen.

Nicht alles, was wichtig ist, liegt in unserer Hand. Aber es gibt vor der eigenen Haustüre viel, das wirklich zählt und bei dem unsere Stimme, unsere Meinung und unser Engagement gefragt wäre. Für die meisten von uns sind das eher Stadtratswahlen, kommunale, kantonale und nationale Vorlagen. Und unser Verhältnis gegenüber Europa, dessen Teil wir sind.

Photo by Clay Banks on Unsplash

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