Dein digitales Lagerfeuer
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Das Ende naht

Schon als Teenager haben mich Berichte zu Nahtoderfahrungen (NTE) fasziniert. Damals wurden die Bücher von Raymond Moody (“Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung.”) und Elisabeth Kübler-Ross (“Interviews mit Sterbenden”) ins Deutsche übersetzt. Mindestens so spannend waren die Diskussionen unter den Gleichaltrigen. Die meisten taten solche Berichte als Halluzinationen ab. Sehr fromme Schulfreunde hingegen sahen darin teuflisches Blendwerk. Und ein kleiner, religiös oder spirituell angehauchter Teil meiner Kolleginnen und Kumpel (interessanterweise meist Katholiken) wiederum sah darin den Beweis für das Weiterleben der Seele.

Zwei Sichtweisen

40 Jahre und Hunderte von Studien später ist das Phänomen der Nahtoderfahrungen viel ausgedehnter erforscht und teilt sich hinsichtlich seiner Bewertung m. E. in zwei Gruppen ein. Zur ersten zähle ich die Leute, deren Weltbild durch NTE nicht in Frage gestellt wird. Viele Hindus, Buddhisten und gewisse Strömungen im Judentum und Christentum teilen die Überzeugung, dass sich beim Tod die Seele vom Körper trennt. Nahtodberichte scheinen dies gewissermassen „empirisch“ zu belegen.

Rein materialistisch-wissenschaftlich denkende Menschen können sich hingegen kein von Gehirnfunktionen losgelöstes Bewusstsein vorstellen. Daher führen sie das paranormale Erleben in Todesnähe auf Hormonausschüttungen, Sauerstoffmangel oder aussergewöhnliche Hirnwellenaktivitäten zurück.

Das Phänomen deuten

Sowohl die Wissenschaftlerin, die nur glaubt, was sie messen kann als auch der Kabbalist, der kein Problem mit Seelenwanderungen hat, bleiben ihren Überzeugungen treu. Das galt lange Zeit auch für die dogmatische Theologie.

Die eigenen Prämissen wurden beibehalten und allenfalls herbeigezogen, um das Phänomen der NTE zu erklären oder zu deuten.

Zum Beispiel hielt man sich an der unter Barthianern beliebten These, dass der Mensch mit Leib und Seele stirbt (Ganztodtheorie), um dann in einem neuen Schöpfungsakt von Gott wieder auferweckt zu werden oder wenigstens in Gottes Erinnerung weiterzuleben. Da Nahtodberichte dieser Anschauung nicht entsprechen, waren sie für die Barthianer nicht weiter von Belang.

Es gibt aber eine wachsende Anzahl Menschen, und das ist die zweite Gruppe, deren Weltbild aufgrund von NTE tatsächlich in Bewegung geraten ist. Dazu gehören sicher Menschen, die selbst eine Nahtoderfahrung gemacht haben. Aber eben auch Wissenschaftler und Forscher. Der Grund scheint mir naheliegend. Der medizintechnische Fortschritt hat eine Zunahme an Reanimationen zur Folge. Und somit auch an NTE. Durch Internet und Medien ist das Phänomen auch bekannter als noch zu Moodys Zeiten. Heute trauen sich Nahtoderfahrene eher, von ihren Erlebnissen zu berichten, während sie früher jahrelang alles für sich behielten, um nicht als verrückt zu gelten.

Bewusstsein ohne Hirnaktivität?

Es fällt auf, dass sich Mediziner als erste mit dieser Art Phänomen flächendeckend konfrontiert sahen und sich deshalb des Themas annahmen. Immer mehr Ärzte und Naturwissenschaftler kommen zum Schluss, dass Bewusstsein trotz Aussetzen der Hirnaktivität wahrscheinlich, zumindest denkbar erscheint.

Überprüfbare Berichte legen sogar nahe, dass Menschen in Todesnähe Zugang zu Wissen erhalten, das unter „natürlichen“ Bedingungen nicht erschlossen werden kann.

So konnten von Geburt an Blinde korrekte visuelle Angaben machen oder Menschen kamen während einer NTE zu Informationen (etwa dem Ableben von Bekannten), die sie noch unmöglich schon vorher haben konnten.

Aus den Beobachtungen von Medizinern wie Jeffrey Long, Pim Van Lommel oder Prof. Dr. Wilfried Kuhn lassen sich keine „Beweise“ für ein Fortleben der Seele oder ähnliches ableiten. Ihre Interpretationen der NTE sind allerdings indizienbasiert und somit nicht einfach reine Spekulation. Auf jeden Fall rühren sie an existentielle, religiöse und philosophische Fragen, die ohnehin das Empirische übersteigen. Im Übrigen: Die These, dass Bewusstsein NUR im Gehirn entsteht, ist zwar sehr verbreitet, aber nicht wirklich belegt. Und in der Philosophie ist das Leib-Seele-Problem bis heute nicht gelöst (vgl. Philosophieprofessor Godehard Güntrup).

Die theologische Sicht

Pfarrerinnen und Theologen gehen sehr unterschiedlich mit der Thematik um. Bezeichnend ist, dass sich Seelsorgende offener für das Thema zeigen, die in ihrer Tätigkeit, etwa in der Begleitung Sterbender oder aus Gesprächen mit Betroffenen, mit Erlebnissen in Todesnähe konfrontiert werden. Einige gehen sogar so weit, ihre Theologie im Spiegel von NTE zu reflektieren. Erst recht trifft das auf Geistliche zu, die selbst eine Nahtoderfahrung gemacht haben.

Es ist an der Zeit, dass sich auch die wissenschaftliche Theologie des Themas annimmt. Nicht nur an Tagungen etwa mit dem emeritierten katholischen Theologen Hans Kessler oder in einzelnen Büchern (vgl. Herbert Koch, „Gott wohnt in einem Lichte“), sondern als eigener Forschungsschwerpunkt. Einen solchen hat vor ein paar Jahren Prof. Dr. Enno Popkes von der Universität Kiel angestossen (hier ein Gespräch mit ihm). Dass wesentliche Züge des christlichen Gottesbildes (etwa bedingungslose Liebe) in NTE ihre lebhafte Entsprechung haben, ist allen bekannt, die mit dem Thema vertraut sind. Theologisch und historisch interessant werden Fragen, ob nicht sogar am Anfang des Christentums solche Erlebnisse standen (Stichwort Paulus’ Himmelreise in 2. Kor 12 oder die Auferstehungsvisionen).

Wenn sogar ein evangelikal geprägter Verlag das Phänomen auf offene und fundierte Weise aufgreift (vgl. Walter Meili, “Phänomen Nahtod”, SCM Hänssler), dann naht nicht nur das Ende. Sondern vielleicht auch der Anfang eines erneuerten Verständnisses des Todes und des Lebens.

Fragestellungen

Denn enthalten alle gesammelten NTE trotz ihrer kulturell und biographisch bedingten Unterschiede eine Wahrheit, welche wäre das? Diese Frage fasziniert mich heute noch genau so wie damals als Vierzehnjährigen. Könnten sie etwa ein Indiz dafür sein, dass unser Geist, unser Bewusstsein, unsere Seele, wie auch immer wir den nichtmateriellen Teil unseres Selbst benennen wollen, mehr ist als das Zusammenspiel von Neuronen?

Könnte es gar sein, dass Bewusstsein nicht lokal gebunden ist, sondern Raum und Zeit transzendiert?

Und würde das Phänomene wie Telepathie, Vorahnungen und dergleichen nicht besser erklären als der Zufall? Ist unser Wissen eigentlich „unser“ Wissen oder in einer „Cloud“ abgespeichert? Man braucht kein Esoteriker zu sein, um auf solche Fragen zu kommen. Auch die Mystiker haben sie gestellt. Heute stellen sie Wissenschaftler und Geistesphilosophen. Für mich sind sie Folge der Beschäftigung mit NTE. Denn diese wirken sich in erster Linie auf das Leben vor dem Tod aus. Was danach kommt, werden wir so oder so erfahren. Das Ende naht ja ständig.

 

Photo by Christopher Campbell on Unsplash

3 Gedanken zu „Das Ende naht“

  1. ENDE
    NAHT
    BEWUSSTSEIN

    ENDE:
    J. A. T. Robinson weist darauf hin, dass es in der Sprache des Neuen Testamentes kein Neutrum Eschaton gibt, kein Zeit-Konzept, sondern den Eschatos: Offb. 1,17:
    ἐγώ εἰμι ὁ πρῶτος καὶ ὁ ἔσχατος

    NAHT: Nähe, Gnade: Einheit von transzendenter Immanenz und immanenter Transzendenz

    BEWUSSTSEIN ODER BEWUSSTHEIT?

    1. „…hier sind drei Wörter auseinander zu halten: “Bewusstheit” als Möglichkeit des Wissens bzw. zu wissen, “Bewusstsein” als Wirklichkeit des Wissens und “Willkür” als selbstbestimmtes Umsetzen des Wissens“ – „”Bewusstheit” wird hier mit “Leere” (Formlosigkeit) zusammengedacht, die einem Spiegel gleich die “Möglichkeit des Wissens” darstellt: dies im Unterschied zum “Bewusstsein” als “Wirklichkeit des Wissens” und der “Willkür” als das “selbstbestimmte Umsetzen des Wissens”

    2. Die Zeit fliesst, und damit die Inhalte des Bewusstseins, auch der unbewussten.
    Bewusstsein ist immer Bewusstsein von ETWAS, von SICH etwa als «Selbstbewusstsein». Doch Selbstbewusstsein ist nicht die reine Selbst-Bewusstheit.

    3.Das SELBST ist Bewusstheit
    Nicht ich habe das Unbewusste, sondern das Unbewusste hat mich.
    «ICH» ist bedingt, situationsbedingt. Das SELBST ist unbedingt.
    Ich HAT Bewusstsein. Das Selbst IST Bewusstheit.

    4.Bewusstheit als «Baum des Lebens»?
    Bewusstsein als «Baum der Erkenntnis von gut und böse»?
    «Hat Gott wirklich gesagt…?» 1 Mose 3,1
    «Gott» wird unversehens zum ER, zum Objekt, zu einem Gottesbild gemacht.
    Nur das DU und das Schweigen können dies – vielleicht -vermeiden.

    5. Die Benommenheit jeder Aufklärung:
    Mit dem „es werde Licht“ wird nicht nur Tag, sondern auch Nacht. Nur das Licht ist «tov», lässt gelingen. Dem Dunkel fehlt (?) die Potentialität.
    Nicht feststellbar heisst nicht „Nicht Nichts“

    6. Teilhard de Chardin .. postuliert, dass bereits in der unbelebten Materie Bewusstsein vorhanden ist. Er nennt es elementares Bewusstsein. Denn die kleinsten Teile, die in der Nuklearphysik erforscht werden, haben ein bestimmtes Wissen darüber, ob und wie sie zusammenpassen.
    Dann wäre, hätte die Erde, ADAMAH also Bewusstsein.
    Und ADAM – der Mensch – darüber hinaus Resonanz (Seele) der göttlichen Potentialität, Spiegelung der Potentialität des JHWH, des „ICH BIN, DER ICH SEIN WERDE..“
    «Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in der Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt.» [footnoteRef:28] Comment by ae: „Odem“ des Lebens
    [28: Martin Buber in „Ich und du“]

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  2. Wenn man die “normale” körperliche Empfindungsfähigkeit verliert (das kann auch vorübergehend geschehen, bei leichten Vergiftungen beispielsweise – vielleicht auch Drogenrausch) geht das normale Raumgefühl bzw. die Selbstlokalisation im Raum mehr oder minder verloren. Die Vorstellung dass man quasi von oben auf sich selber herunterschaut entsteht möglicherweise besonders leicht, weil man einerseits zumeist unten im Zimmer liegt und davon eine Ahnung hat; andererseits das Gefühl hat, zu schweben, was wiederum von der etwas ungewohnten Absenz des Gefühls von Körperhaftigkeit herrühren mag.

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