Als Schülerin habe ich mir mit meinem Namen, Johanna, schwergetan. Dies hing, glaube ich, vor allem damit zusammen, dass an diesem Namen wie der Kaugummi am Schuh die „Heilige Jungfrau“ klebt. Ich schreibe darüber in Folge 1. Weder «heilig» noch «jungfräulich» galten bei uns auf dem Schulhof als besonders cool. Ganz anders, als ich mit 18 bei einer Pariser Familie Au-pair-Mädchen wurde.
Meine französische Gastfamilie war entzückt von mir. «Jeanne» wurde ich jetzt mit weichem Zungenschlag gerufen, etwas von der geheimnisvollen Aura der französischen Nationalheiligen schien in der puren Namensnennung aufgehoben. Die Familie zeigte mir irgendwo in Mittelfrankreich ein früheres Wirtshaus aus windschiefem Fachwerk. Hier hatte Jeanne d’Arc angeblich ein paar Tage übernachtet, auf der Höhe ihres Ruhms und Einflusses.
Jeanne-Kult
Ich liess mich vom Touristenbulk durch enge Räume schieben und versuchte an der Pilgerstätte für Momente begeistert zu sein. Ich gelangte jedoch zu dem Schluss, dass der Jeanne-Kult wohl eine sehr französische Sache sei – und jedenfalls nichts für mich. Meine Gastfamilie wählte übrigens links, konnte mit dem Christentum wenig, mit der «Heiligen Jungfrau» aber erstaunlich viel anfangen. Jeanne d’Arc war in Frankreich lange Zeit eine Nationalheilige quer durch die Lager.
Wofür steht Johanna von Orléans? Ihr Bild hat im Laufe von 600 Jahren intensiver Mythenbewirtschaftung manche Wandlung durchlaufen. Für die «national» denkenden Franzosen im 19. Jahrhunderts, und das seien fast alle gewesen, sei Jeanne schlicht eine Gestalt gewesen, «die schon vier Jahrhunderte zuvor für ebendiese nationalen Ziele gekämpft und gelitten hatte», schreibt der Historiker Gerd Krumeich in seinem Anfang 2021 erschienenen Buch «Jeanne d’Arc: Seherin, Kriegerin, Heilige» (C.H. Beck).
Der renommierte Forscher ist für sein Jeanne-Buch tief in die spezifische Frömmigkeitskultur des späten Mittelalters (Bettelmönchbewegung, Beginen, «Ich»-Frömmigkeit) eingetaucht und verbindet kulturhistorisches Wissen mit seiner eigentlichen Domäne, der Kriegsgeschichte. Beides trifft ja in der Figur von Jeanne d’Arc geradezu archetypisch zusammen.
Als eine Art christliche Jihadistin – «Jesus, Jesus» rief sie noch am Scheiterhaufen – steht die heilige Jungfrau nicht nur für eine neue Frömmigkeit, sondern auch für eine neue Art der Kriegsführung.
Untergang der Ritterkultur
Jeanne war ein Kind von drei Jahren, als sich ein Schlüsselereignis vollzog: die Schlacht von Azincourt im Oktober 1415: Tagelang regnet es heftig. Der Boden wird butterweich. Tausende französische Ritter bleiben mit schweren Rüstungen verdutzt, dann in Panik geratend im Schlamm stecken. Die englischen Ritter steigen vom Pferd herunter und kämpfen gemeinsam mit der Bodentruppe: ein Novum. Die zahlenmässig unterlegenen englischen Bogenschützen haben leichtes Spiel und massakrieren ihre hilflosen französischen Gegner. Eine nach damaligen Standard Hightech-Armee und adelige Elitetruppe scheitert elend.
Das europäische Rittertum ist damals bei Azincourt unrühmlich untergegangen. Bei Don Quichotte hallt im frühen 17. Jahrhundert noch etwas von der Schmach nach. Vor allem aber schöpft der Maler Hieronymus Bosch in seinen Höllenvisionen aus den grausigen Bildwelten des 100-jährigen Kriegs: mit fragmentierten Körpern, löwenköpfigen Monstern und androgynen Vogelmenschen.
Die Reaktion auf Azincourt ist laut Krumeich eine Änderung der militärischen Strategie gewesen. Nunmehr wurden von miteinander verwandten, aber tief verfeindeten Adelshäusern Söldnerheere aufeinander gehetzt. Die Berufssoldaten wurden von überall her rekrutiert und sprachen viele Sprachen. Die Wandlung bestand insbesondere darin, «dass die Heere gewaltig wuchsen und dass nicht mehr der Adel das Schlachtfeld beherrschte, sondern Bürger und Bauern ebenso Dienste leisteten.» (S. 31) Der Ritter- und Söldnerkrieg weitete sich zum Volkskrieg aus und nahm erheblich an Schärfe zu: statt ritterlichem Kampf «Steigerung des Kampfes bis aufs Äusserste».
Massenmobilmachung
Das Absitzen vom Pferde der englischen Ritter in Azincourt sei ein symbolschwerer Akt gewesen. Wer vom Pferd steigt, verzichtet auf die Möglichkeit zum Rückzug. Er gibt zu erkennen, dass er entweder siegen oder sterben will. «Ritterlichkeit hieß seit jener Zeit, vom Rosse abzusteigen und nicht, wie im Standes-Krieg, auf jeden Fall zu Pferde zu bleiben.» (S. 32) Jeanne d’Arc kurze Lebenszeit fällt in diese Zeit der Ausweitung der Kampfzone während der Spätphase des 100-jährigen Kriegs. In einer Phase allgemeiner Kriegsmüdigkeit vermochte die Jungfrau noch einmal zur Schlacht zu mobilisieren, nunmehr zum ganz grossen Kampf: auf Leben oder Tod, Himmel oder Hölle.
Während in dynastischen Auseinandersetzungen Nationalität keine Rolle gespielt hatte, wurde seit der Schlacht von Azincourt die Idee des «Todes für das Vaterland» immer häufiger vertreten.
Dass Jeanne d’Arc, ein Mädchen aus dem Volk, exakt die Übergangsphase vom Ritter- und Söldnerkrieg zum neuzeitlichen Volkskrieg markiert, ist laut Krumeich in der Forschung bislang zu wenig beleuchtet worden.
Der Historiker deutet Jeannes Siege wie auch ihr Scheitern von diesem Umschlagpunkt her – und fahndet nach ideologischen Versatzstücken, die für die damalige Massenmobilisierung aufgefahren wurden.
- Sakralnationales Denken und die Vorstellung von Frankreich als mystischem Leib Gottes; im Umfeld der Bettelmönchbewegung nachweisbar, wo sich solche Gedanken mit der Idee des direkten Bezugs zwischen Gott und individuellem «Ich» verbanden.
- Engelskult: Im Erzengel Michael, dem Drachtentöter, sahen Jeanne und ihre Entourage einen mächtigen Verbündeten; der symbolträchtige Mont Saint Michel ist von den Engländern nicht erobert worden.
- Merlin-Prophetie: Reaktivierung keltischer Weissagungen und Königsmythen; Jeanne als die «Jungfrau aus dem Eichenwald», die Frankreich rettet.
«Die Entwicklung der Volksfrömmigkeit, die neue Betonung des individuellen Glaubens, die Erwartung schließlich, dass Gott ein Wunder tun werde, um das französische Königtum zu retten: All dies war so stark verbreitet, dass Jeannes Anspruch, Gott habe sie zur Rettung Frankreichs erwählt, ihren Zeitgenossen glaubwürdig erscheinen konnte.» (S. 29)
Jeannes Stunde schlug, als 1413 der englische König Heinrich V. Ansprüche auf die französische Krone erhebt. Im Abwehrkampf gegen ausländische Invasoren meinte sie Gott und die Engel an ihrer Seite zu haben.
Wer auf Jeannes Seite kämpfte, stritt in ihren Augen für Jesus, die Gegner kämpften gegen ihn. Selten ist Religion mit so viel frommer Inbrunst für Kriegszwecke instrumentalisiert worden.
« … wenn Euer Sinn nach Krieg steht, wohlan so zieht gegen die Sarazenen. Fürst von Burgund, ich gebiete Euch, ich fordere, ich bitte, ich flehe, so demütig als ich nur immer etwas von Euch zu erflehen vermag, dass Ihr nicht ferner wider Frankreich das heilige Königsland im Streite steht, heißt Eure Leute zur Stelle und unverzüglich aus den Städten und Burgen des besagten heiligen Reiches heimkehren», schrieb die Heilige Jungfrau dem König von Burgund (zit. nach S. 151).
Die Abwehr Fremder (neben Engländern gehörten für Jeanne d’Arc und ihre Mitstreiter die muslimischen «Sarazenen» ins Feindschema), die Sehnsucht nach einer starken Führung, die Reaktivierung «heidnisch»-keltischer Mythen, das Brüchigwerden von Autoritäten (Gegenpapst in Avignon und die Etablierung eines französischen Staatskirchentums gallikanischer Ausrichtung), der eigenmächtige Kampf für ein «christliches» Abendland: eine solche disparat erscheinende Motivkombination begegnet uns heute in kaum gewandelter Form: bei neurechten Kreisen.
Symbolfigur der Nouvelle Droite
Nicht zuletzt die demonstrative Vereinnahmung der frommen Jungfrau durch den französischen rechtsextremen Front National – Kranzniederlegung am 1. Mai an ihrer Statue im Pariser Tuileriepark – hat Jeanne d’Arc als allgemein-französische Identifikationsfigur untragbar gemacht. Das war in der Vergangenheit anders. Lange Zeit galt Jeanne als republikanische Identifikationsfigur, als «ältere Schwester von Marianne» (S. 316). Bis Ende des 19. Jahrhunderts der monarchistisch gesinnte, konservativ-katholische Flügel französischer Bischöfe sie als «Dienerin des Königs» entdeckte und spät – erst 1920 – in Rom ihre Heiligsprechung erwirkte.
Welche Parteigängerin wäre Johanna von Orléans heute? Man könnte sie sich in der deutschen AfD durchaus vorstellen, oder in Kaczyńskis Polen. Allerdings lässt sich die Jungfrau im Kettenhemd schlecht in ein konservatives Frauenbild einfügen. Dazu ist sie zu eigenwillig, zu rebellisch, zu unfeminin, zu queer.
Illustration: Rodja Galli
2 Gedanken zu „Christliche Jihadistin“
Jeanne d’Arc kann nichts für ihre Vereinnahmung. Sie kannte den Begriff “Nation” noch gar nicht. Wie sie selbst dachte und wie ihre Zeitgenossen sie sahen, kann man aus den Gerichtsprotokollen erfahren – sowohl das Protokoll des Strafprozesses als auch das des Rehabilitationsprozesses sind vollständig erhalten und ediert, man kann sie sehr wohlfeil kaufen und lesen. Der Artikel ist eine Frechheit. Abgesehen davon ist es nicht wahr, daß sie an irgendjemanden schrieb – das konnte sie nämlich nicht. Sie hat allenfalls einen Brief diktiert.
Den Bezug zu dem keltischen Mythos stellten Jeannes Zeitgenossen her, nicht aber sie selbst.
Am 24. Februar 1431 sagte Jeanne unter anderem aus: “Es ist auch ein Wald dort. Man nennt ihn den schneeigen, den weißen Wald. Man sieht ihn von der Türe meines Vaters aus. Er liegt kaum eine halbe Meile weit entfernt. Ich habe nie gehört, daß die Zauberinnen dort umgehen. Aber mein Bruder erzählte mir, daß man in Domremy sagte: „Die Jeanne hat unter dem Baum der Feen ihren Auftrag empfangen.“ Das stimmt nicht, ich habe ihm das Gegenteil gesagt. Und als ich vor den König kam, traf es sich, daß man mich fragte, ob es in meiner Heimat einen Wald gebe, den weißen Wald: denn von dort sollte nach gewissen Weissagungen ein Mädchen kommen, das Wunder tat. Aber ich habe nicht daran geglaubt.”
Danke für die kenntnisreichen Ergänzungen. Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, was Jeanne dachte. Wir haben genaue Prozessprotokolle, aber ansonsten wenig Wissen über diese junge Frau. Genau deswegen wuchern Spekulationen. Ich versuche Krumeich darin zu folgen, auf solche zu verzichten.