Wenn Kunst oder Satire religiöse Gefühle verletzt
Die Darstellung «Piss Christ» des amerikanischen Photographen Andres Serrano hat Ende der 1980er Jahre rund um den Globus helle Empörung hervorgerufen. Sie zeigt ein Kruzifix, eingetaucht in ein mit dem Urin des Künstlers gefülltes Plastikgefäß.
Über den Künstler ergoss sich schon nach der ersten Ausstellung eine Flut an Hassnachrichten und Morddrohungen. In den USA gingen regelrechte Protestwellen durchs Land, der Vorwurf der Blasphemie wurde von Tausenden geteilt. Aufgebrachte Politiker warfen sich mit in den Kampf um die Ehre des Herrn und kürzten das Budget der staatlichen Agentur zur Künstlerförderung «National Endowment for the Arts» – weil diese zu den Sponsoren der Auszeichnung gehörte, welche Serrano für seine umstrittene Darstellung erhielt. In den Folgejahren wurden mehrere Anschläge auf das Werk verübt, bis es in einer Ausstellung in Frankreich 2011 schließlich von christlichen Demonstranten irreparabel beschädigt wurde.
Dass es nicht bei leeren Drohungen oder Sachbeschädigungen bleiben muss, wenn Menschen ihren Glauben dem Spott ausgesetzt sehen, wurde 2015 beim Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo» schmerzlich deutlich.
Zu Beginn jenes Jahres drangen zwei maskierte Männer in die Büroräume der Zeitschrift ein, töteten elf Personen und verletzten zahlreiche weitere. Die Täter bekannten sich im Nachhinein zur islamistischen Terrororganisation Al-Qaida – sie wollten die Beleidigung ihres Propheten rächen: «Charlie Hebdo» hatte zuvor mehrmals Karikaturen Mohammeds veröffentlicht.
Abschaffung des Blasphemieverbotes?
Vor einiger Zeit war ich an einem Symposion der theologischen Fakultät Basel, das sich – auch auf dem Hintergrund solcher schrecklichen Eskalationen – mit dem Thema «Blasphemie» beschäftigte.
Ab wann ist eine Aussage, ein Cartoon oder ein Kunstwerk eigentlich «blasphemisch»? Was zeichnet solche Akte oder Artefakte historisch und gegenwärtig aus? Und ist die Absicht des «Produzenten» fraglicher Äußerungen oder Darstellungen für den Befund der Gotteslästerung ausschlaggebend, oder entscheiden darüber ausschließlich die verletzten religiösen Gefühle der Rezipienten?
Das sog. schweizerische «Blasphemieverbot» legt ersteres nahe, wenn es denjenigen für strafbar erklärt, der «öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugungen anderer in Glaubenssachen […] beschimpft oder verspottet». Bei justiziablen Formen der Blasphemie geht es also um niedere Motive auf der Täterseite (wenngleich es für eine Strafverfolgung natürlich auch einen Kläger braucht). Eine Resolution der Schweizerischen Freidenker-Vereinigung wollte vor drei Jahren den entsprechenden Artikel 261 des Strafgesetzbuches anpassen lassen. Sie sah das Recht auf freie Meinungsäußerung gefährdet und wehrte sich gegen einen besonderen Schutz religiöser Überzeugungen vor öffentlicher Kritik.
Es versteht sich von selbst, dass viele Schweizer Politiker:innen und Kirchenvertreter:innen das ganz anders sahen und die Resolution der Freidenker als einen Freipass für das hemmungslose Beschimpfen von Glaubensdingen verstanden. Der Bundesrat hat eine Anpassung von Artikel 261 allerdings vorerst abgewiesen.
Was ist uns denn noch heilig?
Wie auch immer man sich politisch in dieser Auseinandersetzung positioniert – die damit verbundenen theologischen Fragen haben mich jedenfalls nicht so schnell wieder losgelassen. Was ist in einem theologischen Sinne «gotteslästerlich»?
Muss Gott durch staatliche Gesetze und engagierte Christ:innen vor Beleidigungen und Ehrverletzungen geschützt werden – oder geht es einfach darum, den Gottesglauben anderer Menschen nicht der Lächerlichkeit preiszugeben?
Und wie lässt sich der Tatbestand der Blasphemie von legitimen und notwendigen Formen der künstlerischen Kritik an religiösem Fundamentalismus, kirchlichem Machtmissbrauch oder dem Versagen christlicher Institutionen abgrenzen?
An der besagten Tagung wurden einige einschlägige skandalöse Darstellungen von Künstler:innen vorgestellt, die allesamt Stürme der Entrüstung v.a. in kirchlichen Kreisen hervorgerufen haben. Eine Nonne in lasziver Pose, die mit ausgestreckter Zunge ein Kruzifix ableckt. Martin Kippenbergers berühmter gekreuzigter Frosch, der sogar Papst Benedikt auf den Plan rief. Die Skulptur «McJesus» des finnischen Künstlers Jani Leinonen, die einen ans Kreuz geschlagenen McDonalds-Clown zeigt. Und natürlich wieder Andres Serranos «Piss Christ».
Ein protestantischer Professor, zu dessen Ehren das Symposion abgehalten wurde, zeigte sich zum Ende der Tagung eigenartig nachdenklich.
Er merke, dass er viele der als blasphemisch taxierten Darstellungen zwar irgendwie geschmacklos finde, dass er sich dadurch aber in keiner Weise angegriffen oder verletzt fühle. «Was hat das zu bedeuten?», fragte er sich laut; «Ist mir denn gar nichts mehr heilig?»
Da ist Gott doch längst schon durch!
Noch ein Flashback. Erst vor kurzem haben Stephan Jütte und ich in unserem Podcast «Ausgeglaubt» mit zwei Künstlern diskutiert, und wir sind auf ebendiese Frage nach dem gestoßen, was Kunst darf und was nicht – und an welchem Punkt unsere eigenen religiösen Gefühle verletzt würden. Beide konnten sich spontan mit der Reaktion jenes Theologieprofessoren identifizieren, dem nichts mehr heilig zu sein schien – sie hatten dafür aber eine Erklärung, die mir unmittelbar einleuchtete und das Zentrum meines Glaubens trifft.
«Blasphemie? Herabsetzung? Verunglimpfung? Da ist unser Gott doch längst schon durch«, meinte einer der Künstler im Gespräch lapidar. Und da dämmerte es auch mir langsam: Ja, tatsächlich!
Es muss für unsere Wahrnehmung blasphemischer Äußerungen und Darstellungen doch entscheidende Bedeutung haben, dass der Gott des Christentums sich allem erdenklichen Hohn und Spott, jeder möglichen Erniedrigung und Demütigung längst ausgesetzt hat.
Jener Gott, der in Jesus Christus unter die Menschen gekommen ist, hatte es gerade nicht nötig, seine Ehre, Würde und Unantastbarkeit um jeden Preis zu verteidigen. Und er braucht uns auch heute nicht, um ihn vor Lästerungen und Schmach zu bewahren. Im Gegenteil:
Der christliche Gott beweist gerade als Verspotteter, der Lächerlichkeit Preisgegebener, was ihn zutiefst auszeichnet und von anderen Gottheiten abhebt. Eine Liebe nämlich, der es nicht um sich selbst geht, sondern um die Würdigung und Freiheit derjenigen, denen er sich aussetzt und deren Gemeinschaft er zu gewinnen sucht.
Die Absorption der Gotteslästerung
An dieser Stelle könnte es sich lohnen, den Urheber des umstrittenen «Piss Christ» zu Wort kommen zu lassen. Serrano weist nämlich den Vorwurf, ein gotteslästerliches Kunstwerk geschaffen zu haben, entschieden zurück. Er hege mit der Darstellung keinerlei blasphemische Absichten, und er habe auch keine religiösen Gefühle verletzen wollen. «Ich bin mein ganzes Leben schon Katholik und verstehe mich als überzeugter Nachfolger Christi», gab er zu Protokoll.
Und das unsägliche, uringetränkte Kreuzeszeichen? Es soll nach Aussage des Künstlers gegen die Verharmlosung und Kommerzialisierung christlicher Symbole protestieren – und gleichzeitig den Skandal der Kreuzigung aufzeigen. Bei dieser Hinrichtungsmethode hätten die Geschundenen nicht nur geblutet, sondern auch ihre Blase und ihren Darm entleert.
«Vielleicht sind Menschen über den ‹Piss Christ› bestürzt, weil er ihnen einen Eindruck dessen vermittelt, was eine Kreuzigung damals zur Schande machte», gibt Serrano trotzig zu bedenken.
Sicher: Auch wenn man dem Autor dieses Werkes solche Hintergedanken zugesteht und ihn von der Absicht der Gotteslästerung freispricht, muss man seine Darstellung deswegen noch nicht angemessen, geschweige denn weise finden. Und natürlich werden sich auch im Licht solcher Erklärungen noch manche Menschen angewidert und in ihrem religiösen Empfinden verletzt zeigen.
Für mich persönlich ist es im Blick auf das Phänomen der Blasphemie aber eine fundamentale Einsicht geworden, dass jener Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, jede Gotteslästerung längst ertragen und gewissermaßen in sich aufgenommen hat.
Diese Vorstellung ist mir in der Tat noch heilig. Und sie kann mir durch keinen Spott der Welt mehr strittig gemacht werden.
Image: «Immersions (Piss Christ)» by Andres Serrano (1987).
1 Gedanke zu „Sind Christen über Blasphemie erhaben?“
Mein Knopf im Verständnis: Menschwerdung Gottes oder Gottessicht durch einen Menschen?
Als Theologin einer Theologie von unten glaube ich, dass nicht Gott in Jesus Christus zur Welt gekommen ist, sondern dass in Jesus sichtbar wurde, wer und wie anders Gott sein könnte, als wir das so gemeinhin uns vorstellen. Die Blasphemie gilt also vor allem dem Menschen Jesus, der mit seinem Leben und Sterben auf Gott hin durchsichtig geworden ist. Die Frauen um Jesus haben zuerst den Durchblick gewonnen, sie haben gedeutet, was in ihren Augen passiert war: Er ist auferstanden! Die Antwort darauf hat die frühe Kirche gegeben: Er ist wahrhaftig auferstanden! Darüber können Witze gemacht werden. Die Umdeutung der Schmach eines staatlich verordneten Verreckens am Kreuz in den Einblick ins Antlitz Gottes selbst, das hat Paulus vollbracht. Und das ist die grösste Blasphemie gegen den Götterhimmel. Für Mohammed, den Propheten Gottes, war das unglaublich und unglaubhaft. Wie könnte der Allerhabene sich so erniedrigen! Und das ist es, was anstössig bleibt: Piss Christ! Der Gegenruf zu Allahu Akbar! Wer christlich glaubt, vermag im Piss Christ das Antlitz Gottes zu sehen. Das ist die Kehrseite der Blasphemie, dieselbe Münze.