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Betochterung

Für die Umkehrung des Generationsverhältnisses existiert ein psychologischer Begriff: ‹Parentifizierung› oder ‹Parentifikation›. Der Ausdruck beschreibt eine vorübergehende oder dauerhafte Familiensituation, in der sich das Rollenverhältnis von Kindern und Eltern umkehrt. Das Kind fühlt sich genötigt oder sogar verpflichtet, gegenüber einem Elternteil die Elternrolle einzunehmen.

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie meine ich besser als meine Mutter zu wissen, was für sie gut oder nicht gut ist. Inzwischen ist es fast schon chronisches Besserwissen. Dabei bin ich weder auf dem Feld der Virologie noch der Immunologie oder Gerontologie Expertin.

Wie kommt man am besten – und vor allem lebendig – durch die virologische Jahrhundertkrise? Derartiges haben zuletzt unsere Urgrosseltern erlebt. Eine meiner Urgrossmütter ist gestorben, als die spanische Grippe wütete, wir wissen nicht woran. Sie lag im ‹Kindbett›. Allein das konnte vor hundert Jahren tödlich gewesen sein.

«Mama, ich finde, du musst …»

«In deinem Alter solltest du …»

… so habe ich 2020/2021 Sätze am Telefon begonnen. Als würde ich mit einem kleinen Kind sprechen oder einem Demenzpatienten, wiederhole ich ungebetene Ratschläge mehrfach. Zigfach hält vielleicht besser! Versuche meiner geistig vollkommen klaren Gesprächspartnerin am anderen Ende der Leitung, das Thema diskret zu wechseln, lasse ich nicht gelten.

Natürlich nerve ich gewaltig. Meine Mutter ist aber zu höflich, mir das zu zeigen. «Ich kann schon verstehen, dass du dir Sorgen machst», sagt sie nur – und tut, was sie für vernünftig hält. Ich nehme mir vor, wenigstens psychologisch einfühlsam vorzugehen – und hole doch wieder die Brechstange heraus: «Bist du vorsichtig genug?», «Hast du Besuch empfangen?», «Wäscht du dir die Hände?».

«Hast du dein Butterbrot fertig gegessen?», «Hast du deine Nase geputzt?» … Der Tonfall meiner Eltern, als ich Kind gewesen bin, hallt merkwürdig in meinen heutigen Sätzen nach. Einerseits wäre mir lieb, sie würde das Haus nicht verlassen; andererseits wäre das bei einem alleinstehenden Menschen reiner Irrsinn. Auf einer Skala von superentspannt (1) bis superängstlich (10) würde ich bei meiner Mutter die 2 ankreuzen. Ein wenig bewundere ich ihre Coolness, aber genau diese stachelt meine misstrauische Sorge an.

Auf den Kopf gestellte Hierarchie

Selbstverständlich mag ich mich nicht in der Rolle derjenigen, die einem älteren und lebenserfahreneren Menschen jenseits der 70 ungebetene Ratschläge erteilt. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, erhebe ich mich in meiner Besorgtheit über sie, stelle die Altershierarchie auf den Kopf. Ist das noch angebrachte Sorge um das Wohlergehen eines lieben Menschen oder schon Ausdruck eines problematischen Vertrauens- und Sicherheitsmangels meinerseits und einer womöglich missglückten emotionalen Loslösung?

Gerade das Ungebetene an Ratschlägen verleiht ihnen vielleicht den Reiz des Verbotenen. Und weil man es ja nur gut meint, fällt der Übergriff umso leichter.

In meinem Umfeld bin ich mit dem Hang zur Parentifikation nicht allein. Ich stelle in Gesprächen fest, dass sich auch andere gerade in der Corona-Phase einen bevormundenden Tonfall gegenüber ihren Eltern oder Grosseltern angewöhnt haben; dass auch Freunde und Bekannte älteren Verwandten, die in offizieller Terminologie pauschal als ‹vulnerabel› gelten, Ratschläge eintrichtern und diese über unübersichtliche Gefahrenlagen aufzuklären versuchen. Wenn Ältere auf abweichenden Standpunkten beharren, werden sie als renitent oder verstockt erlebt.

Eine Chance, gelassener zu sein!

Mit den Corona-Massnahmen komme sie gut zurecht, beteuert meine Mutter. Als älterer Mensch müsse man ohnehin in vielen Lebensbereichen kürzertreten und Einbussen der Beweglichkeit hinnehmen. Corona habe diese Tendenz lediglich verstärkt. Besorgtheit in Massen sei willkommene Anteilnahme: «Mit dieser Haltung zeigst du, dass dir der andere nicht gleichgültig ist.»

In der Impffrage sind wir unterschiedlicher Auffassung. Meine Mutter setzt seit jeher auf Stärkung des Immunsystems durch natürliche Mittel. Industriechemischen Substanzen steht sie abwartend-reserviert gegenüber. Ich dagegen empfinde tiefe Erleichterung darüber, dass erste Impfstoffe zugelassen sind. Der Bewegungsradius gerade für Ältere weitet sich. Die Ohnmacht nimmt ab.

Mit der Impfung kehrt ein Stück Freiheit zurück. Es muss jedoch auch die Freiheit bestehen, sich nicht impfen zu lassen.

Wenn das ‹Betochtern› oder ‹Bevatern› eine neue Verhaltensweise ist, stehen die Chancen gut, dass sich mit dem voraussehbaren Abklingen der Pandemieangst wieder ein angemessen respektvolles Generationsverhältnis einstellt. Überbesorgtheit einem Elternteil gegenüber kann aber auch ein tiefsitzendes, aus der Kindheit herrührendes Verhaltensmuster sein, das sich unter Corona-Bedingungen nur deutlicher offenbart hat. In diesem Fall ist vielleicht der Moment gekommen, sich eine Beziehungsdeformation einzugestehen. Und den Weg frei zu machen für Loslassenkönnen.

 

Photo by Kilian Seiler on Unsplash.

1 Kommentar zu „Betochterung“

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