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 Lesedauer: 5 Minuten

Auf ein Leben danach!

Aus dem «Klima», das unser Zusammenleben in den letzten Wochen geprägt hat, kann ich aber etwas mitnehmen, das meinen Alltag über den Corona-Lockdown hinaus verändern soll. Wäre ja schade, wenn Sawiris seine Milliarden nur für ein paar hundert Menschenleben geopfert hätte. Wir schulden es ihm gewissermassen, dass wir daraus etwas lernen. Natürlich weiss ich, dass ich manches schon bald wieder vergessen haben werde. Aber wie sagt Kant: Wirklich gut ist nur der gute Wille. Also, meine Learnings für die Zeit danach – oder wenigstens für die ersten paar Wochen:

«Nimm dich nicht zu ernst…»

Ich neige dazu, das was ich tue, immer ganz besonders wichtig zu finden. Besonders in den ersten beiden Wochen des Lockdowns sind fast alle meine Termine ausgefallen. Und siehe da: Sie dreht sich doch. Und zwar ganz gut ohne mich. Wirklich systemrelevant bin ich nämlich nicht für die Gesellschaft, sondern vor allem für meine Familie und Freunde. Es macht einen grossen Unterschied, ob ich meine Kinder nur ab dem Nachtessen sehe, oder ob ich dabei bin, wenn sie aufwachen, lernen, spielen und sich streiten. Ich habe sie besser kennen gelernt. Und zwar ganz anders als in den Sommerferien. Wir haben zusammen geputzt, gekocht, uns gestritten, Fussball gespielt und Zimmer um- und aufgeräumt.

Mit etwas Distanz kommt mir der «Normalzustand» ein bisschen wahnsinnig vor. Ich möchte deswegen nicht Familie gegen Beruf ausspielen. Ich liebe auch meinen Job. Aber ich möchte mich fragen: Braucht es diese Sitzung wirklich? Muss ich dabei sein? Weshalb und für wen ist das wichtig? Ich habe mich nämlich voll daran gewöhnt, Familie und Freundschaften in die Leerräume zu packen, die neben «der Arbeit» bleiben. Das ist nicht einmal für «die Arbeit» richtig gut. Arbeit braucht ihre Grenzen und Familie ihren Platz.

Fünf-Tage-Woche ist Unsinn!

Klar, wer feste Arbeitszeiten hat, ist mit der Fünf-Tage-Woche besser bedient als ohne. Aber weshalb lebe und arbeite ich so, als ob ich daran gebunden wäre? Ganz einfach: Am Sonntag rumliegen ist in Ordnung – ausser man muss dann die fehlende Familienzeit irgendwie kompensieren – aber am Montagnachmittag nicht. Da bekommt man ein schlechtes Gewissen. In den letzten Wochen im Homeoffice habe ich aber gelernt, mich selber zu organisieren. Wenn ich keine Idee hatte, bin ich spazieren gegangen, habe mich hingelegt oder in meinem Buch weitergelesen. «Merkt ja eh keiner!», habe ich mir gedacht. Und siehe da! Ohne diesen blöden Druck ging alles leichter.

Ich plädiere damit nicht für die 32-Stunden-Woche. Aber ich will mich von diesen (selbstauferlegten) Konventionen verabschieden. Projekte, Texte und Podcasts haben Deadlines. Die sind wichtig. Aber meine Arbeitszeiten richte ich besser nach meiner Tagesform aus.

Was brauche ich wirklich?

Ich bin mehr so der haptisch-visuelle Typ. Im Laden kaufe ich gerne ein, Online-Shopping macht mich hingegen nicht froh. Vieles, was ich in den letzten Wochen gekauft hätte, habe ich darum sein lassen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich oft Dinge kaufe, die ich gar nicht um ihrer selbst Willen haben will, sondern wegen der Idee, für die sie stehen. Joggingschuhe stehen dafür, dass ich endlich wieder mehr Sport machen möchte, fitter sein will, mir Zeit nehmen möchte für mich. Neue Weingläser stehen für fröhliche Abende mit guten Freunden bei milden Sommernacht-Temperaturen. Die HotWeels-Autobahn habe ich gekauft, weil ich dann etwas mit meinem Sohn erlebe. Aber ich kann mir keine Gesundheit, keine Freunde und keine Erlebnisse mit meinen Kindern kaufen. Und insofern hatte Kant nicht ganz Recht. Denn es stimmt genauso: Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es! (Erich Kästner)

Ordnung

Besonders in der Startphase war unser Haushalt chaotisch: Schulmaterial der Kinder und zweimal Homeoffice ohne Office… Die Laptops waren Dauergäste am Esstisch und überall bildeten sich Stapel mit Arbeitsunterlagen, Schulheften, iPads, Gesellschaftsspielen und Büchern. Als meine Frau irgendwann unter ihrem Kopfkissen ein Laptopladekabel und einen Nerf-Pfeil fand, machte sie uns klar, dass alle Dinge einen bestimmten Ort brauchen. Marie Kondo hatte mir das schon vor einem Jahr auf Netflix erzählt. Aber weniger resolut. Seit wir weniger Dinge und alle Dinge einen Ort haben, fühle ich mich viel wohler. Und wenn ich wieder von meinem Büro aus arbeite, werde ich da als erstes ausmisten, aufräumen und dann Ordnung halten. Ehrenwort.

Unterscheiden

Zu Beginn habe ich keine Pressekonferenz verpasst und ganz viele sehr ähnliche Zeitungsartikel über CoVid-19 gelesen. Ich habe mir die volle Dosis gegeben. Bis ich kapiert habe, dass es ziemlich egal ist, was ich darüber weiss. Unter dem Strich war es sehr einfach: Händewaschen, wenn möglich zuhause bleiben und wenn möglich ohne Gäste.

Es ergab überhaupt keinen Sinn, jede Mitteilung zu verfolgen und immer auf dem neuesten Stand zu sein. Ich glaube, das gilt eigentlich für ganz viele Themen. Lieber eine Wochenzeitung lesen, als drei Newspodcasts täglich und fünfzehn Mal 20Min. Seit Stefan Raab nicht mehr auf Sendung ist, ist die Chance gering, dass mich ein TV-Team zu irgendetwas spontan befragt. Ich muss nicht alles wissen. Und deshalb kann ich mir mehr Zeit nehmen, für das, was nicht nur «interessant», sondern echt wichtig ist: Wie geht es meinen Eltern? Habe ich meiner Kollegin zum tollen Blogbeitrag gratuliert? Was passiert, wenn ich 10 min nichts tue?

Verstehen und Anwenden

Das ist alles nicht weltbewegend und ich bin nicht sicher, ob Sawiris diese Erkenntnis als gute Gegenleistung für seine Milliarden akzeptiert. Es könnte nur wieder etwas sein, das man begriffen hat und das dann völlig folgenlos bleibt. Es könnte aber auch sein, dass ganz viele von uns mit kleinen Erkenntnissen, Wünschen und Hoffnungen aus dem Lockdown zurückkehren. Und weil wir gleichzeitig ähnliche Erfahrungen gemacht, über unser Leben anders nachgedacht und neue Bilder und Ideale haben, könnte etwas in Gang kommen, das kein Preisschild hat. Keine Revolution, aber viele gute Willen, die in einem guten Klima zu vielen kleinen Taten heranwachsen. Bis wir uns nicht mehr zurücksehnen nach den alten Freiheiten, sondern in dem aufgehen, was uns wirklich gut tut.

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