Dein digitales Lagerfeuer
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Amen. Wenn das Heilige nach Mottenkugeln riecht

Es sagt sich so leicht: “Faltet die Hände und betet.” Schon Kinder stiftet man dazu an. Die Geste ist kinderleicht, aber wie sie sich mit Sinn füllen lässt und wozu Gebet gut sein soll, bleibt häufig dahingestellt. Das soll offenbar jedes Kind selbst herausfinden. In mir weckte der kulturell vermittelte Gebetsimperativ – in Erinnerung kommen wohlmeinende Lehrerinnen und ein betagter, gravitätisch wirkender Dorfpfarrer – ein latent schlechtes Gewissen. Als Kind wollte ich zu Gott beten, hatte aber den Verdacht, es entweder nicht richtig zu können oder bloss so zu tun, als würde ich beten.

Aber wie hätte ich ‘richtig’ beten können, wo ich doch gar nicht wusste, was es mit der scheinbaren Allerweltsaktivität Beten überhaupt auf sich hatte. So blieb mir nur, Erwachsene nachzuahmen, aber beteten diese wirklich?

Worte rauschen vorbei

Zweifel begleiteten mich auch im Erwachsenenalter. Beim Beten in kirchlicher Gemeinschaft kann es passieren, dass Worte stumpf an mir vorüberrauschen. Beim Vaterunser fiel es mir lange Zeit besonders schwer, einen inneren Kontakt herzustellen.

Offenbar bin ich mit dem Problem nicht alleine. Der Theologe und presbyterianische Pastor Timothy Keller, dessen feinsinnige Vorträge und Predigten im Internet ein grosses Publikum erreichen, kennt nicht nur Schwierigkeiten beim Beten, sondern hat auch einen Vergleich parat: Man stelle sich den Besuch bei einem Freund vor, an dessen Wohnung die S-Bahn vorbei braust. Der Lärm wirft einen fast vom Stuhl. Man fragt: “Was war das?”. Der Freund fragt zurück: “Was? Ach, der Zug, ich bin es gewohnt und merke es nicht mehr.”

Wenn Gebetsworte allzu vertraut sind, nehmen wir sie mit der Zeit nicht mehr wahr und es bleibt höchstens die gute Absicht übrig. Keller stellt fest:

“Sometimes it’s harder to pray for thirty minutes, than it is to preach for thirty minutes.”

Wie ein Helikopterflug

Der New Yorker Theologe bemüht noch ein zweites Bild, um zu verdeutlichen, weshalb das scheinbar Leichte anspruchsvoll und tatsächlich Übung notwendig ist. Er vergleicht Vaterunserbeten mit einem Helikopterflug. Der Pilot, der bei seinem ersten Flug denkt, es werde leicht, könne sich fatal irren. Er unterschätzt, dass Fliegen technisches Verständnis, Kunstfertigkeit und Mut gleichermassen voraussetzt. [1]

Wenn man Beten mit einem Helikopterflug vergleicht, drängen sich Fragen auf: Reicht es aus, eine Weile über den Wolken zu schweben oder gibt es ein Ziel? Gibt es eine Autopilotfunktion? Kann man auch abstürzen? Sind Worte, die zwei Jahrtausende lang weitergereicht wurden, heute überhaupt noch geeignete Mittel für Höhenflüge?

Kritik an Formulierungen

Gerade mit dem Vaterunser kann man Probleme haben. Man kann sich schon am ersten Wort stören, dem “Vater”, oder an der Formulierung “Und führe uns nicht in Versuchung”. Ende Januar kam die Meldung, dass sich die italienische katholische Kirche nach jahrelanger Diskussion tatsächlich für eine Änderung in “Überlass uns nicht der Versuchung” entschieden hat. Theologisch gesehen ist dies die Verabschiedung der Idee der Prädestination, also der göttlichen Vorbestimmtheit im Guten wie im Bösen (ausformuliert von Augustinus und später insbesondere von Calvin).

Andernorts herrscht weiter Zögern. Ich denke, Überlieferung sollte nicht in Stein gemeisselt werden. Es ist aber offensichtlich schwierig, sich zu Änderungen gerade in diesem extrem verdichteten Gebet, ja Gedicht durchzuringen, dieser seit Kindertagen vertrauten christlichen Formel. [2] Das Sich-Stören an einzelnen Wendungen kann auch eine weitere Ausrede sein, weshalb man nicht oder noch nicht beten mag oder kann. Vielleicht widerstrebt es einem auch deswegen, weil es kontraintuitiv erscheinen kann, sich als eigenständig denkender Mensch einem “Vater” so bedingungslos auszuliefern, wie das Vaterunser es fordert (sein Name wird geheiligt, sein Wille soll geschehen etc.).

Anstiftung zum Kontrollverlust

Ich denke, das Vaterunserbeten wäre nicht zweitausend Jahre lang als gelebte Praxis tradiert worden, wäre es nicht für viele Menschen eine Hilfe und Stütze gewesen. Die Haltung, zu der es anstiftet, mag verwechselbar sein mit Fatalismus. Ich sehe darin eine kühne Ermutigung, nicht länger egozentrisch kontrollieren zu wollen, was sich nicht von mir kontrollieren lässt, und das heisst innerlich frei(er) zu werden. Wenn es mir an Gelassenheit mangelt, wenn mich Unruhe überschwemmt, wenn ich innerlich zu laut bin, um zu beten, so finde ich es dennoch tröstlich, dass dieses schöne Gebet immer da ist und wartet.

Ein weiter Raum

Mir haben Kellers Metaphern geholfen, einen Zugang zum christlichen ‘Gebet der Gebete’ zu finden. Ich habe die Bilder aber unbewusst verändert. Ich vergass den Helikopter (war mir wohl zu technisch), aber behielt in Erinnerung, dass es um einen weiten Raum ging, den grosse Worte öffnen können und der gefüllt ist mit Kraft und Herrlichkeit. Um in diesen Raum zu gelangen, musste ich allerdings vergessen, was ich als Kind über das Beten gelernt hatte. Ich musste das Gebet von Assoziationen an Kirchgänger*innen lösen, die die Worte an Feiertagen nach meiner Wahrnehmung stumpf ‘herunterbeten’. Ich musste eingeschliffene Routinen ablegen wie alte Wintermäntel, die nach Mottenkugeln riechen.

 

[1] Timothy Keller: How to Pray.

[2] Argumente, die gegen eine Textänderung sprechen, versammelte Stephan Jütte bereits 2017 unter der Überschrift “Führe uns nicht in Versuchung …?! Genderquark vs Superpapst”.

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