Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Als meine Puppe im Schuhkarton in den Himmel fuhr

Immer rechtzeitig zu Weihnachten waren Pfützen gefroren und trugen Tannen und Fichten weisse Kleider. Auf Dachrinnen wuchsen Eiszapfen und in Kachelöfen raschelte Feuer. Schneepisten begannen gleich hinterm Gartenzaun. Die Winterwelt war für uns Kinder in einem kleinen österreichischen Alpendorf in fast tausend Meter Seehöhe ein weites, weisses Wohnzimmer, geschaffen, um darin glücklich zu sein.

Nicht so mein Zuhause. Der Vorrat an Freundlichkeit zwischen meinen Eltern reichte oft nicht aus, um einen Tag unfallfrei zu überstehen. Und Weihnachten war auch bei uns eine emotionale Gratwanderung. Was für ein Glück, dass es das Tannenbaumritual gab! Der ›Christbaum‹ verlieh Weihnachten Struktur. Am Baum konnten wir uns festhalten. Dank ihm entglitt die Zeit nicht formlos. Um den Baum herum gruppierte sich der Tag von Mama, Papa und Kind.

Draussen und drinnen verschwammen

Der Christbaum musste ausgesucht und geschnitten werden, draussen im Wald. Mein Vater nahm mich mit. Es wurde nicht das prächtigste Exemplar ausgewählt, sondern ein Baum, der ungünstig stand und ohnedies ausgeforstet werden sollte. In seiner Werkstatt zimmerte mein Vater mit Geschick eine Halterung. Dann platzierte und justierte er den mannshohen Nadelbaum in unserer Wohnküche.

Mit dem Baum zog ein Stückchen Wald bei uns ein, die Grenze zwischen draussen und drinnen wurde durchlässig.

Das war der Moment für unseren Rückzug. Erst dann konnte das scheue Christkind damit beginnen, den Baum mit hausgemachten Strohsternen, Bienenwachskerzen und Kugeln in der Farbe von Honiggold zu schmücken. Und das konnte dauern. Nie sonst im Jahr verbrachten Vater und Tochter Zeit einfach nur so, als gemeinsame Zeit.

Dann kam der grosse Augenblick: Die flackernden Lichter, das unergründliche Tannengrün und der Duft von frischen Zweigen, Harz und Bienenwachs in der abgedunkelten, warmen Wohnküche verfehlten ihre Wirkung nie. Eine gewaltige Glückswoge schwappte zielsicher von der sorgfältigen Inszenierung über auf mein Kinderherz. Unser Zuhause war plötzlich verzaubert. Das Christkind hatte sich nicht umsonst bemüht.

Nächtliches Norweger Stricken

Was die Eltern fühlten, ob sie für Momente wieder Kinder waren und glücklich, war nicht Gegenstand meines Interesses. Alle Aufmerksamkeit war, nachdem sich die erste Wucht des seltsam schönen und alle Sinne betörenden Weihnachtswunders gelegt hatte, bei der Stelle unter dem Baum, wo Geschenke erwartbar waren. Dort lag tatsächlich eine übersichtliche Zahl an Päckchen und Paketen.

Ich bekam die üblichen Süssigkeiten. Dazu kam diesmal ein neuer Skianzug, weil der alte zu klein geworden war. Ein weiches Päckchen enthielt ein von meiner Mutter mit der Strickmaschine im Norwegermuster gestricktes Wolljäckchen. Abendelang hat meine Mutter für mich genäht oder gestrickt, immer wenn ich schon im Bett war. Ich schlief oft mit dem ›Ritsch-ratsch‹ der mechanischen Strickmaschine ein.

Ganz o.k., das Norwegerjäckchen mit dem Muster aus Pilzen und Vögeln, aber mein Augenmerk lag bereits auf dem letzten Päckchen. Es hatte Schuhkartongrösse – das richtige Format für die Puppe, die auf meiner Wunschliste ganz oben stand. Ich öffnete behutsam die Klebebänder und entfernte das Geschenkpapier – dieses und auch die Schleifen wurden für das nächste Weihnachtsfest aufbewahrt – und hob den Kartondeckel auf.

Mit dem Schuhkarton im Himmel

Im Karton fand ich tatsächlich eine Puppe, aber diese kam mir komisch vor. Sie erinnerte mich an eine Puppe, die ich schon lange besessen, häufig an- und ausgezogen, und wenn sie nicht brav war, auch bestraft hatte. Meine Mutter war auf enttäuschte Nachfragen vorbereitet und beeilte sich zu erklären: »Ja, es ist deine Puppe, aber das Christkind hat sie mit in den Himmel genommen und verwandelt zurückgebracht.«

Und tatsächlich: Die Puppe sah wirklich verändert aus: wie neu, strahlend, gekämmt, neu eingekleidet und in einen mit Stoff sorgfältig ausgekleideten Karton gebettet. Der Schuhkarton, vermutete ich, musste das Reisefahrzeug in den Himmel gewesen sein. Dass die Puppe zuvor schmutzig und unfrisiert gewesen war, hatte mich nicht gestört, ja hatte ich wohl kaum bemerkt. Dennoch fand ich die Verwandlung jetzt wundervoll. Einerseits.

Besonders, dass die Puppe im Himmel gewesen war, machte sie schön und erhob sie über alle anderen Spielsachen. Es verlieh ihr eine heilige Aura. In ihr war fortan etwas aufgehoben vom Himmel. Sie war jenem Christkind persönlich begegnet, das unseren Tannenbaum so herrlich schmückte, jedoch immer Sekunden, bevor ich ins Zimmer trat, durchs Fenster entwischt war.

Unheimlich vertraut

Andererseits: Ein kleiner Restzweifel blieb, ob die Puppe wirklich mit dem Christkind unser Haus verlassen hatte. Vor allem aber fand ich die Puppe fortan etwas sonderbar und sogar ein wenig unheimlich. Sie bekam einen Platz abseits der anderen Spielsachen. Ich spielte nach ihrer Himmelfahrt nicht mehr mit ihr. Höchstes befragte ich sie hin und wieder, wie es im Himmel sei.

Die Puppe wurde zu einem heiligen, vom Gebrauch abgesonderten Gegenstand.

Das Spielen mit ihr hätte ich erst wieder erlernen müssen, und das wollte ich nicht. Ich ahnte wohl, dass sie auch dann nie wieder das alte Spielzeug geworden wäre. Bei Licht besehen, habe ich damals also nicht nur keine neue Puppe bekommen, sondern mir wurde meine alte Puppe als Spielkameradin entzogen.

Dennoch habe ich ihre Himmelfahrt und ihre Christkindbegegnung leidenschaftlich verteidigt: gegen meine ältere Cousine und ihre aufklärerisch-häretische Ansicht: »Das Christkind, das ist ausschliesslich deine Mama, genau wie der Osterhase.« Die unsichtbare Dimension, die meine Puppe an sich gezogen und verzaubert hatte, war mir offenbar ein Schutzschild gegen die kleineren und grösseren Katastrophen meiner Kindheit.

 

Photo by James Sutton on Pexels

4 Kommentare zu „Als meine Puppe im Schuhkarton in den Himmel fuhr“

  1. Hallo Redaktion,
    ich finde leider nicht die Kontaktadresse von Johanna Di Blasi. Ich würde diesen Text gern in meinem YouTube Kanal als „Weihnachtsgeschichte“ vorlesen und möchte dafür um Erlaubnis bitten. Mein YT Kanal heißt „Lebenvertiefen“.
    Könnt Ihr mir hier den Kontakt vermitteln?
    Merci und lieben Gruss von
    Jan

  2. Weihnachten ist ja tatsächlich eine ambivalente Sache. Das wird hier sehr schön aufgenommen und erzählt. Für mich ist des die Kunst des «Trotzdem». Dieser Blick auf das was ist, über alle schlüssigen Argumente hinaus. Das tönt nach Verschwörungstheorieanfälligkeit. Mag sein. Die Haltung dahinter mit diesem respektvollen Blick auf trotz allem vorhandene Qualitäten und nicht einfach nur Gefährdungen verhindert die Verschwörung und öffnet zum Wundern. Vielen Dank!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage