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Abenteuer: Über die Kunst, sich verwandeln zu lassen, ohne sich abhanden zu kommen

Märchen sind voll von Aufgaben, die Menschen dramatisch überfordern und übernatürliche Kräfte oder Helfer erfordern. Zum Beispiel über Nacht Stroh zu Gold spinnen (Rumpelstilzchen), undurchdringliches Gestrüpp überwinden (Dornröschen) und natürlich Drachenkämpfe, jede Menge Drachenkämpfe.

Schon als Kind habe ich mich gefragt, warum in den überlieferten Geschichten Helden übertriebene Mühen, einschüchternde Aufgaben und schier unlösbare Probleme zu bewältigen haben, ja erst aus diesen als eigentliche Helden hervorgehen und dann Prinzessinnen und Königreiche gewinnen. Sind solche absurden Prüfungen nicht purer Sadismus?

Vielleicht will ich gar keine Heldin sein, will in Ruhe leben? Spätestens, wenn sogenannte existenzielle Einschnitte passieren, wird man freilich aus Komfortzonen gerissen. Wie kann man sich aufrecht halten, wenn der Boden unter den Füßen wegbricht? Wie kann man verhindern, vom Abgrund aufgesogen zu werden?

Ein Essay von Giorgio Agamben mit dem Titel „Abenteuer“[1] enthält nach meiner Lesart einen Leitfaden: Es ist ein Plädoyer für eine abenteuerliche Lebensauffassung, eine Haltung, die ähnlich den Helden aus der mittelalterlichen Ependichtung existenziell umwälzenden Ereignissen nicht prinzipiell aus dem Weg zu gehen versucht, sondern diese mit offenem Visier erwartet. Stets gespannt, was als Nächstes kommt.

Wunderbar geheimnisvoll

Etymologisch reicht der Abenteuerbegriff hinein in Bereiche des Wunderbaren und plötzlich hereinbrechenden Geheimnisvollen. Es ist auch das Feld der antiken Göttin Tyche, die verwirrender Weise beides verkörpert: Schicksal und Notwendigkeit.

Hoffnung und Glaube können in Krisensituationen Schicksals-wendend sein („Der Glaube ist der feste Grund, für das, was man hofft“, Heb. 11,1), aber mit Irrtum und Täuschung ist ebenfalls zu rechnen. Das macht das Leben zum Abenteuerritt.

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts spielt der Begriff des „Ereignisses“ eine wichtige Rolle. Es geht um das Sich-Aneignen des Eigenen. Vom Einzelnen wird Zustimmung zum Ereignis gefordert, es ist aber keine freie Wahl.

Das Ereignis oder Abenteuer wollen bedeutet nach Agamben „nichts weiter, als es als Eigenes anzunehmen, sich ihm auszusetzen, sich in ihm ganz aufs Spiel zu setzen, ohne dass es so etwas wie einer Entscheidung bedürfte. Nur so wird das Ereignis, das als solches nicht von uns abhängt, zum Abenteuer, wird unseres – oder, wie man besser sagen sollte, wir werden seines.“

Es geht um das Paradox einer aktiven Form von Gelassenheit und darum, selbst zu Ereignissen Ja zu sagen, die mich ängstigen und potenziell zerstören können. Es geht darum, sich verwandeln zu lassen, ohne sich abhandenzukommen, ohne den seelischen Tod zu sterben, oder modern gesprochen: ohne innerlich „auszubrennen“.

Eine Sprache finden

Martin Luther beschwor die verwandelnde Kraft der Taufe, war aber skeptisch, was das Abenteuer anlangt: „Die taufe“, schrieb er, „stehet nicht auf eventum, das ist auf ebenthewr“ (zitiert nach Grimms Wörterbuch[2]). Da war der Begriff bereits abgewertet, wie heute im Begriff Eventkultur.

Die Ausgangssituation mag ungünstig erscheinen. Hier ich, der kleine zerbrechliche Mensch, unzureichend gewappnet. Und mir gegenüber das sich aufbäumende Ungeheuer: meine Angst; Angst vor Scheitern und Unglück, einer Naturkatastrophe, einer schweren Krankheit, dem Verlust der Liebe. Ein erster Schritt ist gemacht, wenn Distanzierung gelingt, wenn ich mich dem Drachen gegenübersehe, auch wenn er weiterhin in mir wütet oder schlummert.

Jedes Leben kann zu jeder Zeit Abenteuer bescheren, willkommene und unwillkommene. Man kann ihnen offensiv begegnen, wenn man sich nicht von Angst lähmen lässt, sondern sich in Erinnerung ruft, in einem Abenteuer zu sein, sich tragen lässt vom Willen zu überleben, den Glauben nicht verliert, in der Hoffnung bleibt, nach vorn blickt. In der Krise zurückschauen ist in Märchen streng verboten.

Das ist aber etwas anderes als Verdrängung. Für das Erlebte eine Sprache finden ist essenziell. Der „Troubadour“ ist derjenige, der Wunderbares „findet“ („trouver“) und der „dichtet“, d.h. Geschichten über Liebe und Leid erzählt, individuelle und kollektive Sinnzusammenhänge offenlegt und sich anderen mitteilt statt (traumatisiert) zu verstummen.

Nicht von ungefähr findet sich in der mittelalterlichen Ependichtung das Abenteuer als Gegenüber des Dichters personifiziert, zum Beispiel bei Wolfram von Eschenbach im Parzival.

„Tut auf!“

„Wem? Wer seid ihr?“

„Ich will ins Herz hinein zu dir.“

„Seid ihrs, Frau Abenteuer?“[3]

[1] Giorgio Agamben, Das Abenteuer. Der Freund (=Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 094), Berlin: Matthes & Seitz 2018.
[2] Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Das Deutsche Wörterbuch, 33 Bände, Leipzig, S. Hirzel 1854-1971, Bd. 1, Sp. 28.
[3] Wolfram von Eschenbach: Parzival und Titurel. Übersetzt von Karl Simrock. 16 Bände, Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, 1883, Stuttgart, V. 433,1-5.

2 Kommentare zu „Abenteuer: Über die Kunst, sich verwandeln zu lassen, ohne sich abhanden zu kommen“

  1. Was für ein heiterer und tiefsinniger Text. Da horcht man gleich, ob die Dame Aventüre nicht schon an der Tür klopft. Der Satz „Es geht darum, sich verwandeln zu lassen, ohne sich abhandenzukommen“ kommt ins innere Poesielabum. Danke, Johanna!

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