Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 3 Minuten

Was werden wir sein?

Ich habe am Montag einen wunderschönen Vortrag von Johann Hinrich Claussen gehört. Claussen ist ein Kulturmensch. Und ein Protestant. Und er könnte genauso gut ein charismatischer Pastor einer (extrem gebildeten) Freikirche sein. Als ich ihm zugehört habe, wie er mit wunderschönen Sätzen zwischen dem Untergang des Kulturprotestantismus und dessen Zauber gesurft ist, dachte ich: Nein! Das darf nicht sein!

Ich werde meinen Kindern noch Bachoratorien abspielen. Ich werde ihnen die umwerfende Schönheit von Caravaggios Christus in Rom zeigen. Wir werden nach Davos fahren und uns aus dem Zauberberg vorlesen. Wir werden uns darüber streiten, ob im Himmel Mozart oder Telemann inszeniert wird. Und ich merke: Ich weiss selbst nicht, was das bedeuten würde. Könnte kein Stück Telemanns aus dem Stegreif nennen. Würde wohl kaum den Unterschied erkennen.

Aber ich könnte erklären, inwiefern sich die Küche Tim Melzers von derjenigen Tim Raues unterscheidet. Ich wüsste die Fussballmeister der Axpo-Super-League der letzten 10 Jahre ohne zu zögern auswendig. Ich kann Passsagen der Podcastgespräche, die Matze mit seinen Gästen geführt hat, mitsprechen.

Zerfallserscheinungen?

Bin ich selbst eine Zerfallserscheinung des gebildeten Protestantismus? Ziemlich sicher.

Aber kann ich mich bessern? Wohl kaum.

Ich war schon ein paar Mal im KKL. Ich habe Bachoratorien, Händels Messias und in meiner Berliner Zeit sogar Chorkonzerte gehört. Ich ertrage das gut. Und ich kann total einschüchternd wissend nicken, wenn jemand darüber spricht. Aber es ist mir vollkommen egal.

Dante hingegen würde ich retten. Immer. Wenn ich ein Buch retten könnte, wenn das letzte Haus mit Bibliothek brennt: Die göttliche Komödie. Mein Lateinlehrer hat sie geliebt. Ich mochte ihn. Er hat mich angesteckt. So geht es mir auch mit Fussball, mit „Kitchen Impossible“ und mit Matze.

Bildung

Wenn ich an Bildung denke, denke ich an schön eingefasste Bücher, einen kulturellen Kanon. Die Bibel. Goethe, Mozart, Bach.

Was ich wirklich liebe, sind Augustinus, Thomas von Aquin, Kant, Schleiermacher, Karl Barth, Hannah Arendt und Carolin Emcke. Das liegt an den Menschen, die sie mir nahegebracht haben. Zu jedem Namen gibt es einen „Freund“ oder eine „Freundin“: Augustinus – Anna. Thomas – Andreas. Kant – Alexander. Schleiermacher – Paul. Barth – Georg. Hannah Arendt – Magdalene. Carolin Emcke – Magdalene.

Jep. Ich sehe das Gesicht eines Freundes, wenn ich an Kant denke und das einer Freundin, wenn ich an Augustinus denke. Und wenn ich das nächste Bachoratorium höre, denke ich an Johann Hinrich Claussen. Der lieber Jazz mag. Aber so wundervoll davon gesprochen hat.

Wer werden wir sein?

Kann schon sein, dass Kirche bald vorbei ist. So wie wir sie kennen. Aber das Christentum geht weiter. Durch Menschen, die so von Bach, Mozart, Schelling, Augustinus, Paulus, Jesus, Moses oder Gott sprechen können, dass es uns ansteckt. Und dadurch wird es immer Kirchen geben.

Aber:

Wir warten nicht mehr auf Lehrer*innen, die uns die Welt erklären. Wir wollen Zeuginnen, die uns den Mut geben, parteiisch zu sein, zu lieben, zu verehren. Auf die können wir schon jetzt setzen. Dann sterben wir wenigstens in Schönheit.

 

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