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Was ändert sich, wenn Religionen bleiben?

Es gibt einen alten, etwas ressentimental gefärbten, aber dennoch nicht ganz unwitzigen Spruch, der lautet: «Gott ist tot! Unterschrieben: Nietzsche. Und darunter: Nietzsche ist tot. Unterschrieben: Gott.»

An diesen Spruch musste ich denken, als ich versuchte, mir die Situation zu vergegenwärtigen, in der vor etwa 25 Jahren der Begriff des Postsäkularen erstmals auftauchte. Er kam nämlich auf, nachdem mit dem Kommunismus eine säkularistische, religionskritische Ideologie zusammengebrochen war und gleichzeitig die Religion, besonders der Islam als (politische) Macht erkennbar geworden war.

Das Nicht-Ende der Religion

Damit war die Erwartung, dass die Religion verschwinden würde, in doppelter Weise infrage gestellt. Durch das Ende des säkularistischen Projekts und das gleichzeitige Nicht-Ende der Religion. Mit anderen Worten:

Die Religion ist tot. Unterschrieben: Säkularismus. Der Säkularismus ist tot. Unterschrieben: Die Religion.

Damals begann die Karriere des Begriffs «postsäkular», ohne dass ganz klar war, was er eigentlich genau bedeutet. Das klingt merkwürdig, liegt aber in der Natur erfolgreicher Post-Begriffe. Sie sagen zunächst vor allem, dass etwas hinter uns liegt, dass es deswegen als Ganzes in den Blick kommt, ohne uns genau zu sagen, worin das Neue besteht, in das wir eingetreten sind.

Und eben das gilt auch für den Begriff postsäkular. Er hilft uns, besser zu sehen, was das «Säkulare» gewesen ist und warum dieser Begriff gerade im Laufe des 20. Jahrhundert das westliche Selbstverständnis so stark prägen konnte.

Janusköpfigkeit des Säkularen

In dieser Zeit verortete sich «der Westen» zwischen «Religionen» oder «Traditionen» (die noch nicht säkularisierte «Dritte» Welt) und einem antireligiösen Säkularismus (Kommunismus). Gleichzeitig trug der Westen diese Spannung in sich selbst aus, zwischen einer christlichen (oder biblischen) und einer säkularistischen (kommunistischen) Orientierung.

Die einen beharrten darauf, dass eine religiöse Orientierung unabdingbar sei; die anderen richteten ihre Hoffnungen auf die Überwindung der Religion.

Das Säkulare nun ist janusköpfig, es hat also zwei Seiten. Und genau wegen dieser ihm eigenen Zweideutigkeit war es eine perfekte politisch-theologische Kompromissformel. Säkular konnte in der Zeit der Ost-West-Spannung nämlich sowohl halb-religiös als auch halb-säkularistisch bedeuten – je nachdem, ob man das Säkulare aus einer religiösen oder einer säkularistischen Perspektive betrachtete.

Eben diese Zweideutigkeit liess den Begriff des Säkularen für die Liberalen unter den Progressiven und Religiösen gleichermassen als vorübergehend akzeptabel erscheinen.

Eine liberale Linke konnte die Säkularisierung säkularistisch als langsamen Weg zur Überwindung der Religion interpretieren und als solche unterstützen. Liberale Christen wiederum konnten sich ebenso mit dem Säkularen anfreunden. Gerade weil der Staat, indem er sich als säkular verstand, damit indirekt eine Abhängigkeit vom Religiösen eingestand und sich damit nicht absolut setzte.

Eben dieses Selbstverständnis artikulierte Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem vermutlich meistzitierten Satz eines deutschen Verfassungsrechtlers:

«Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.»

Der Katholik Böckenförde sagte das unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils, das im gleichen Jahr die Religionsfreiheit anerkannte. Wenngleich er damals, 1965, von einem säkularisierten Staat sprach, kann man rückblickend sagen, dass er eine gute Definition für ein postsäkulares Selbstverständnis artikulierte.

Das wird deutlich, wenn wir uns die Definition des grossen deutschen Philosophen Jürgen Habermas anschauen. Er hatte den Begriff postsäkular nur wenige Wochen nach dem 11. September 2001 allgemein bekannt gemacht.

Rettende Aneignung?

In seinem Vortrag «Glauben und Wissen» grenzte sich Habermas von einem einseitig religions- und einem einseitig säkularisierungskritischen Ansatz ab.

«Nach der einen Lesart werden religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente ersetzt; nach der anderen Lesart werden die modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Güter diskreditiert.»

Mit anderen Worten: Habermas wandte sich sowohl gegen einen religionskritischen Säkularismus (Ersetzung der Religion) als auch gegen eine religiöse Diskreditierung der Säkularisierung, die er als ständigen Übersetzungsvorgang religiöser Gehalte verstand. Indem er aber Säkularisierung als Übersetzung (=rettende Aneignung) religiöser semantischer Gehalte verstand, band auch er diese, wie zuvor Böckenförde, an Voraussetzung, genauer, an religiöse Sinnressourcen.

Damit wies er, der lange als linker Denker in Erscheinung getreten war, der Religion genau jene Bedeutung zu, die ihr zuvor liberale Konservative zugesprochen hatten.

Aber man kann noch einen Schritt weiter gehen als Habermas, wenn man die Frage stellt, ob (religiöse) Erfahrungen und Erzählungen überhaupt «übersetzbar» sind.

Die Frage der Übersetzbarkeit

Die Frage der Übersetzbarkeit von religiösen Erfahrungen, religiösen Erzählungen in eine rationale Sprache spielt bei Habermas keine grosse Rolle. Obwohl sie doch sowohl von Walter Benjamin – eine für die Frankfurter Schule, der Habermas angehört, wichtige Gestalt –, als auch von Jan Assmann ebenfalls Ende des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert wurde.

Wo diese Frage gestellt wird, stellt sich auch die Frage nach der Übersetzbarkeit zwischen unterschiedlichen Traditionen. Und wenn wir uns diese Frage in aller Radikalität stellen, dann wird uns die Universalität unserer eigenen, christlichen, säkularen Tradition fragwürdig. Dann können wir weniger denn je sicher sein, dass säkulare, westliche Werte ohne Weiteres universell gelten sollen.

Die Infragestellung der Übersetzbarkeit führt aber durchaus nicht zum Verschwinden der Frage nach einer universellen Wahrheit. Im Gegenteil, sie weckt diese aus ihrem Schlummer.

Und das scheint umso nötiger in einer multipolaren Welt, die immer mehr in kulturelle Identitäten zerfällt und in der schon die blosse Frage nach der Wahrheit als Naivität oder Zumutung erscheint: als Ärgernis oder als Torheit.

 

Luca Di Blasi unterrichtet Philosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Im Herbstsemester 2023 hat er das POSTSECULAR LAB initiiert. In diesem beschäftigen sich Studierende theoretisch und praktisch mit dem Thema Postsäkularität, lesen sich in das Thema ein und suchen geeignete Experti:innen, um mit ihnen Podcasts zu produzieren. Die Pilotfolge des Podcasts des Postsecular Lab erscheint in einer Woche auf einer eigens relaunchten Website und zudem im RefLab als TheoLounge.

Abbildung: KI-generiert mit Adobe Firefly

2 Kommentare zu „Was ändert sich, wenn Religionen bleiben?“

    1. Jürgen Friedrich

      Sehr gut !
      Ebenfalls gut :

      Zitat des Tages
      Tradition ist die Methode, die verhindern will, daß Kinder ihre Eltern übertreffen.
      (Ephraim Kishon)

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