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 Lesedauer: 5 Minuten

Philipp Roth‘ Nemesis – Sündenböcke in Zeiten der Epidemie

Nemesis – so heisst die griechische Göttin der Rache. In Philipp Roth‘ gleichnamigen Roman geht es gleich dreimal um eine alles verschlingende Logik von Rache und Vergeltung:

Wer ist schuld – und verdient welche Strafe?

Sündenböcke suchen

Es ist Sommer 1944, und Bucky Cantor ist aufgrund seiner starken Kurzsichtigkeit nicht im Kriegseinsatz wie seine Brüder. Umso mehr möchte er sich bewähren in der Betreuung der Jungs auf dem Sportplatz, gerade jetzt in der Zeit dieser Epidemie. In dem Masse, wie die Kinderlähmung sich ausbreitet, wächst die Anspannung. Die Menschen suchen einen Sündenbock. »Die Behörden haben versagt«, sagen viele. »Die Italiener sind schuld«, heisst es im betroffenen jüdischen Viertel. »Die Juden haben es sich selbst zuzuschreiben«, sagen andere, »mögen sie alle zu Tode kommen!«

Bucky spricht mit aufgewühlten Eltern und verängstigten Kindern.

Sucht keinen Schuldigen, sagt er. Weder andere noch dich. Tragisches geschieht. Wir wissen nicht, warum. Lasst uns Ruhe bewahren, vorsichtig sein und zusammenhalten, dann überstehen wir das.

Vielen gibt er Halt und Kraft. Doch weitere Kinder stecken sich an. Einige sterben. Auch ihn treffen Vorwürfe, nicht aufgepasst zu haben.

Seine Freundin schreibt ihm: Ist es denn wirklich deine Pflicht, in dieser Hölle auszuharren? Haben wir nicht auch ein Recht auf Glück? Komm doch zu mir, arbeite mit mir zusammen in einem Kinderferienlager, weit weg von dieser Seuche. Bucky ringt mit sich. Und dann kündigt er seine Stelle und flieht ins Glück. Und sie erleben goldene Tage, voller Sonne, Liebesrausch und Freizeitspass.

Fluchen können

Als er dort von weiteren verstorbenen Kindern in Newark erfährt, steckt auch ihn die Frage an: Wer ist schuld an diesem Unglück? Buck ist kein religiöser Mensch. Aber in dieser Situation ergreift er Zuflucht zu Gott – um jemanden zu haben, den er verfluchen kann. Was für eine grauenhafte Seuche ist das, die Menschen am Leben lässt, die sich nach dem Sterben sehnen – und diejenigen mit voller Kraft schlägt, deren Leben eigentlich erst beginnt? Ausgerechnet die jungen Quirligen, die am wenigsten vorsichtig sein können? Und sie macht sie zu Krüppeln oder bringt sie ins Grab. Wer erfindet so etwas?

Gott erscheint ihm nun als „die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie.“ (207)

Es muss doch einen Schuldigen geben!

Und dann trifft Polio auch das bisher unberührte Paradies. Kinder werden krank, einige sterben. Oder sie überleben mit lebenslangen Verkrüppelungen. Auch Bucky ist betroffen. Sicher ist es nicht, dass er den Virus eingeschleppt hat. Aber es spricht viel dafür.

Was für ein entsetzlich schmaler Grat! Ein Leben lang verhält sich Bucky vorbildlich gewissenhaft. Und da ist er ein einziges Mal grosszügig mit sich selbst. Und bringt damit Tod und Leid über viele und sich selbst. Das Leben ist nicht fair.

Wie geht man mit der Entdeckung um, selbst unfair gewesen zu sein? Wenn ein wenig mehr Geduld, wenn der Verzicht auf das eigene Glück hätte Leben retten können?

»Stop! In the name of love!«

Bucky hat es Gott spüren lassen, was er von Ungerechtigkeit hält. Wie wird er nun mit sich selbst umgehen? Nemesis findet ihr drittes Opfer der Rache. Wie sollte er sich selbst Gnade gewähren, wo er sie Gott verweigert?

Aber muss man denn in diesen Teufelskreis geraten? Diesen bösen Blick durch die grauenhafte Brille der Nemesis, durch die man alles sieht unter der Voraussetzung: Alles hat einen Grund – und immer ist jemand schuld? Kann ihm denn niemand helfen, sich diese Brille von der Nase zu reisen?

Seine Freundin versucht sich an dieser Mission. Er bricht den Kontakt ab, will sie freigeben, um sie von sich zu erlösen und sich selbst zu bestrafen. Verzweifelt-tapfer sucht sie ihn auf mit ihrem »Stop! In the name of love«. Lass doch Unglück Unglück sein und werde dir wieder gut! Willst Du Dich denn Dein Leben lang bestrafen? Dich und mich und Gott und alle?

Und man möchte mit dem Mädchen weinen und ihm die Hände küssen, es trösten und mit ihm getröstet werden. Weil es so trostlos ist, dass sie kein Gehör findet. Denn er kann die Brille der Göttin Nemesis nicht mehr von seinen Augen unterscheiden. Bleibt am Ende irgendein Hoffnungsschimmer? Natürlich nicht. Hätte Philipp Roth die Regie von »Titanic« geführt, Rose wäre in der letzten Szene von Haien zerfleischt worden.

Ein Nachwort?

Bedarf eine solche Buchbesprechung – eines christlichen Nachwortes? Irgendetwas Tröstliches? In der Regel fehlt es nicht am Wissen. Man hat gehört von bedingungsloser Liebe, die alles trägt und nie vergeht.

Doch oft bleibt das Wissen so schwach, weil es Antworten bietet auf Fragen, die zuvor nicht wirklich gelebt worden sind.

Was sich sagen liesse, steht am Beginn des Romans. Sucht keinen Schuldigen, sagte Bucky. Weder andere noch dich. Tragisches geschieht. Oft wissen wir nicht, warum. Lasst uns Ruhe bewahren, vorsichtig sein und zusammenhalten, dann überstehen wir das.

Manchmal kennt man den Weg und geht ihn nicht zu Ende. Manchmal weiss man die Wahrheit. Und hält sie nicht durch.

 

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