Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

Nordsee, Sand und die unbesohlte Lebendigkeit

Es sind grob tausend Kilometer zwischen Basel und «unserem» Strand in Nordholland. Aber diese Distanz lässt unsere Sehnsucht nach Meer nicht weniger werden – im Gegenteil. Mit der Landschaft des Meeres verbinde ich derart viele und lebendig machende Erfahrungen, dass dieses Stückchen Welt mich seit Jahren zu sich zieht. Und selbst, wenn sich nicht alle Erwartungen so erfüllen, wie sie ersehnt waren, ein Glück widerfährt uns bestimmt. Wir haben es ritualisiert:

Selig einsanden

Auto abstellen, die Sachen rasch in die Ferienwohnung räumen und erst mal ab zum Strand. Wir hören das Rauschen und wetteifern, wer wohl die Wellen dieses Mal zuerst erblickt? Und dann kommt‘s: Schuhe aus und endlich wieder Sand unter den Füssen! Dieses Erlebnis nutzt sich offenbar nicht ab.

Ein seliges Hochgefühl, so losgeschnürt zu sein, ins Weiche zu stapfen und sich unbesohlt der Lebendigkeit auszusetzen.

Unbeschuht auf Erden stehen

Der Soziologe Hartmut Rosa beginnt seine Analyse menschlicher Weltbeziehungen mit dem Körper und beobachtet, was mir bisher als selbstverständlich entgangen ist: Wir sind in die Welt gestellt!

«Die naheliegendste und grundlegendste Antwort auf die Frage, wie wir in die Welt gestellt sind, lautet: Mit den Füßen. Wir stehen auf der Welt, wir fühlen sie unter uns» (Rosa: Resonanz, S. 83).

Bodenständige und geerdete Wesen sind wir also, allerdings meist beschuht und verschnürt. Auf Sohlen schützen wir uns vor der Erde, dämpfen sie ab und halten sie uns vom Leib. Aber hier am Strand läuft das so nicht mehr. Wo es so sanft und weich rieselt, da wird man landläufig sandläufig. Was für eine wohlige Lust, barfuss auf, ja, in der Welt zu stehen!

Feinkörnige Verbundenheit

Der Sand zwischen meinen Zehen lässt mich gewahr werden, wie intensiv ich mit der Erde verbunden sein kann. Ich fühle den Boden in allen Variationen von fein bis rau, heiss bis kalt, weich bis hart, feucht bis trocken, glatt bis zerfurcht. Kann man das Leben mit den Füssen umarmen? Und mir scheint, ich stünde nicht nur auf Sand, sondern er auch auf mich. Er pappt sich an meine Füsse, kitzelt, piekst, reibt und massiert sie. Die wiederum antworten mit Kribbeln, Muskelkater und seliger Müdigkeit. Zeit, dem Sand ins Meer zu folgen, bis die Wellen mich von den Füssen heben.

Zusammen ins passende Fussbett laufen

Im Sand zu laufen kann richtig anstrengend sein. Der trockenweiche und instabile Untergrund fordert einem alles ab. Wer will, lässt sich von dieser Trainingspartnerin anstacheln und die Muskeln und Lauftechniken zeigen, die bisher unterentwickelt geblieben sind. Aber dann gibt es auch jene Streifen, in denen das Wechselspiel von Selbst und Welt so leicht, ja geradezu zauberhaft wird.

Dort, wo der Sand noch feucht ist, wo das Meer gerade zurückgeflossen ist, da wartet auf mich ein Fussbett, das die Laufschuhhersteller neidisch macht. Es ist weder vorgefertigt noch vorgegeben. Es entsteht mit jedem Schritt, den ich mache.

Spontan und frei passen mein Körpergewicht, die Geschwindigkeit und der Fussabdruck bestens zusammen. Stehen, Gehen und Laufen als purer Genuss – hier ist der einzige Ort, an dem meine Tochter mit mir Joggen geht, beinahe jeden Morgen.

Vom Leben gebettet

Ich laufe wild im Kreis und lass mich von der Fliehkraft aus der Bahn werfen. Rückwärtslaufend sehe ich meine eigenen Füsse abgebildet. Nicht ich drücke dem Sand hier meine Sohle auf, sondern er bettet meine Füsse. Zu spüren, wie der Boden sich je neu an mich schmiegt, zieht meine Schritte nach vorne.
In solchen Momenten kann mich eine gelassene Zuversicht erfüllen:

Egal, wo ich meinen Fuss noch überall hinsetzen werde, das Leben wird mich passend empfangen.

Vom Sand willkommen geheissen

Wenn dann alles zusammenstimmt, fühle ich mich ein wenig wie in Peter Jacksons Film „Avatar“. Unter meinen Fussballen, die wohl die Feuchtigkeit ein wenig beiseite drücken, erscheinen helle Kreise, die sofort wieder verblassen.

Für mich ist das nicht einfach mystischer Kitsch. Mir leuchtet hier in der Nähe der Wasserlinie die freudige Antwort des Sandes entgegen: Schön, Dich zu spüren, Du barfüssiger Strandläufer!

Spuren kopieren geht nicht

Wer am Sandstrand entlangläuft, kehrt meist irgendwann um. Warum ich auf dem Rückweg gerne die unterschiedlichen Fussabdrücke und Spuren anschaue, kann ich gar nicht sagen. Welche waren noch mal die meinen? Wenn ich sie finde, stelle ich mich gerne noch mal passgenau hinein: Ja, das sind meine kleinen Patschefüsse!

Ich laufe rückwärts und merke, dass ich keinen meiner Wege kopieren kann. Selbst wenn ich die neuen Schritte einfach gegenläufig neben die alten setze, ist es ist viel zu anstrengend.

Noch müder macht es, wenn ich in den Füssen und Schrittmassen anderer laufe, weil sie so imponierend grösser und weiter sind als meine. Bis mein Glück heranrollt.

Freigespülte Weite

Das Meer hat die einengende Fixierung auf die alten Fussabdrücke weggespült und mir eine unberührte, glatte Fläche präpariert. Sonne und Wind haben die alten Spuren versanden lassen und eine gerippelte Weite daraus gemacht. Was einen auch mal melancholisch stimmen darf, kommt über mich wie ein befreiender Segen:

Nichts kommt in diese Welt, um für immer zu bleiben. Schon gar nicht im Sand. Jetzt geht der Kopf wieder in den Wind und ich laufe hinein in die vorgabenfreie Weite.

Ich sprinte parallel zur Brandung und bilde mir ein, mit diesem Speed wenigstens ein paar Schritte übers Wasser laufen zu können. Keine Einbildung ist, dass ich ermächtigt bin, neue Wege zu laufen, noch dazu im eigenen Mass meiner Beine, Schritte und Füsse. So mag ich durchs Leben laufen, nicht nur am Strand. Und meine Dankbarkeit findet ihre göttliche Adressatin:

«Du stellst meine Füsse auf weiten Raum» (Psalm 31,9).

5 Gedanken zu „Nordsee, Sand und die unbesohlte Lebendigkeit“

  1. Es zieht mich jedes Jahr an die niederländische Küste. Ein Teil meiner Wurzeln, mütterlicherseits, befinden sich dort. Ich spüre im Sand auch dieses „ auf der Erde sein“ und das Meeresrauschen macht mich glücklich. Danke für diese wunderbaren Zeilen.

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