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Netflix und das Fernsehen als Kanzel

»Bibleman« und eine homogene Weltsicht

Der Superheld heisst »Bibleman«, die historischen Filmumsetzungen spielen Lebensgeschichten biblischer Figuren wie Ruth oder Samson nach, und in der Wissenschafts-Sendung »Awesome Science« wird die Zuverlässigkeit der biblischen Überlieferungen bewiesen. Die Darstellung romantischer Beziehungen folgt einer strengen heterosexuellen kein-Sex-vor-der-Ehe Maxime, Alkohol- oder Drogenkonsum kommen nicht vor, und allfällige verbliebene Kraftausdrücke lassen sich auf Knopfdruck zensurieren:

Es ist einfach, das von Christen in den USA lancierte Videoportal PureFlix als Produkt eines realitätsfernen Milieus zu verurteilen – oder als letztes Scharmützel eines verlorenen Kulturkampfes auch einfach zu ignorieren.

Nicht allzu viele werden sich einer solchen Mediendiät noch unterziehen, und selbst wer im wohlbehüteten Zentrum einer solchen konservativen Bubble aufgewachsen ist, wird dem verengten Blick wohl einmal entwachsen.

Die Film- und Religionswissenschaftlerin Marie-Thérèse Mäder macht in einem SRF-Bericht dann auch keinen Hehl aus ihrer Kritik an dem christlichen Streamingdienst: PureFlix sei für ein Publikum mit einer ganz bestimmten Weltsicht gestrickt und lasse keine Filme und Serien zu, welche diese homogene Perspektive erschüttern könnten. Das könne man besonders an der Verarbeitung sexualethischer Fragen ablesen (Heteronormativität, Homophobie, Verurteilung von Abtreibung und Sex vor der Ehe…): »Bestimmte Normen werden propagiert und andere verurteilt«.

Politisch-weltanschauliche Engführungen

Diese Anfragen sind zweifellos berechtigt. Aber hier beginnt es eigentlich erst spannend zu werden.

Denn natürlich sollte man sich auch als Netflix-User oder DisneyPlus-Abonnent nicht der Illusion hingeben, man hätte es mit einer weltanschaulich und politisch neutralen Angebotspalette – oder gar mit Abbildungen »der Realität«! – zu tun.

Christliche Dienste wie PureFlix sind ja erst aus der Beobachtung heraus entstanden, dass Hollywood und seine digitalen Vertreiber eine unverkennbar politisch-linkliberale Schlagseite aufweisen. In einem kulturpessimistischen Milieu, das die traditionelle Ehe und Familie akut gefährdet sieht und dem (post-)modernen Zeitgeist zu trotzen versucht, können die Freizügigkeiten und »Unkonventionalitäten« vieler populärer Serienformate veritables Befremden auslösen.  Kein Wunder, dass gerade viele evangelikale Eltern eine Streaming-Alternative begrüssen, deren Produkte noch an den überkommenen Einteilungen festhalten und einer nachwachsenden Generation »intakte«, »geordnete« Verhältnisse sowie einen unerschütterlichen Glauben vorführen.

Nun wird manche*r Nutzer*in die allfälligen weltanschaulichen Engführungen von Netflix und Co. einigermassen gleichmütig hinnehmen, da sie ohnehin den eigenen politischen Präferenzen entsprechen. Wer selbst eher linksliberal gesinnt ist, wird sich nicht daran stossen, auf den Portalen der Streamingdienste Filmen und Serien zu begegnen, welche die eigenen Neigungen noch bestärken.

Jedem seine Scheuklappen

Lässt sich die Kritik am weltanschaulichen Tunnelblick von PureFlix also letztlich auf viele ihrer Kritiker zurückspiegeln? Halten sich hier einfach Angehörige unterschiedlicher Milieus die Engführungen der Sichtweise des jeweils anderen vor?

Dann könnte man die Angelegenheit ja einfach befrieden, indem man allen Gesellschaftsteilnehmern ihre spezifischen Milieuverengungen zugesteht: Jedem seine eigenen Scheuklappen!

Lieber nicht. Denn jede Einschränkung des Blickwinkels, im Namen welcher Agenda sie auch erfolgt, kommt einer Verarmung der Wirklichkeit gleich. Wer sich damit allzu leichtfertig abfindet, hat der Fragmentierung der Gesellschaft und dem schwindenden Verständnis zwischen Menschen, die ganz unterschiedlich ticken, nichts mehr entgegenzusetzen. Mehr noch: der/die trägt zum Auseinanderdriften verschiedener Lebenswelten und zum sozialen Filter-Bubble-Effekt letztlich mit bei.

Auch wenn es mir einigermassen leichtfällt, mich zwischen einer konservativ-fundamentalistischen und einer progressiv-linksliberalen Gesinnung für Letztere zu entscheiden,

so muss doch klar bleiben, dass die Realität unserer Welt immer reicher, komplexer, widersprüchlicher, auch geheimnisvoller, undurchschaubarer und deutungsoffener ist als jedes politisch-weltanschauliche Programm.

Propagandafernsehen

Und damit sind wir wieder beim Kerngeschäft der Hollywood-Giganten und Streaming-Dienste. Die Myopie parteipolitischer oder zeitgeistiger Geltungsansprüche tut den Geschichten von Filmen und Serien nämlich selten gut – unabhängig davon, ob sie Menschen zu einer kleinbürgerlichen Version des Christentums bekehren oder ihnen die neue Normalität der Regenbogengesellschaft eintrichtern wollen.

Wohl auf dem Hintergrund einer Überdosis an »Bekehrungsfernsehen« in meiner Jugendzeit bin ich heute ebenso sensibilisiert wie allergisch darauf, wenn man mir in einer Geschichte noch unterschwellige Botschaften unterjubeln will, welche die Glaubwürdigkeit der Story unterlaufen oder diese zum blossen Vehikel machen.

Das gilt ausdrücklich auch dann, wenn ich diese Botschaften an und für sich von Herzen teile.

Beispiele dafür finden sich auf Netflix zuhauf. Etwa in jenen Eigenproduktionen, welche derart konsequent »durchgequotet« sind, dass man sich fühlt, als hätte man sich auf eines jener Pressefotos aus der Businesswelt verirrt, auf welchen zwingend eine Asiatin, ein Schwarzer, eine Seniorin und (lieber im Hintergrund) ein Weisser abgebildet sein muss. Die Quotenfairness solcher Aufnahmen hat den Preis, dass sie sich auf Anhieb als Promo-Bilder entlarven. So gerecht sind nur Fotos. Oder eben Filme, in denen man angestrengt bemüht war, keine Bevölkerungsgruppe zu vergessen. Oder zumindest nicht jene Minderheiten, auf deren Repräsentation eine linkliberale Öffentlichkeit Hollywoods sensibel genau achtet.

Und die Moral von der Geschicht’…

Sicher:

Jede Geschichte hat eine »Moral«. Jedes Narrativ führt mindestens implizit bestimmte Wertvorstellungen mit, nimmt bestimmte Wertungen vor, formt bestimmte Überzeugungen aus, stiftet bestimmte Hoffnungen usw.

Sogar die Theologie hat das längst gesehen und sich unter dem Label der »narrativen Theologie« bemüht, die argumentative Kraft guter Geschichten herauszustellen und sie auch zu nutzen. Daran ist nichts Verwerfliches, solange die Geschichten glaubwürdig bleiben und nicht unter dem Druck propagandistischer Absichten ihre Tiefe und Vielschichtigkeit einbüssen. Man könnte auch sagen: Solange die Geschichten ihre Moral tragen – und nicht umgekehrt. Und man wird hinzufügen müssen: Solange die Moral nicht immer dieselbe ist, sondern etwas von der Komplexität des Lebens widerspiegelt.

Gerade an dieser Stelle muss Netflix auch löblich erwähnt werden: Durch die Unterstützung von Netflix-Filmprojekten und Serienformaten in verschiedenen Ländern hat der Streamingdienst gerade in den vergangenen Jahren einen enormen Reichtum an Perspektiven erschlossen. Düstere und verworrene Kriminalserien aus Schottland oder Schweden (»Broadchurch«, »Wallander«), feingeistige wie auch derbe Komödien aus England oder Holland (»Liebe und Anarchie«, »Sex Education«), ein wildes Bankraub-Drama aus Spanien (»Haus des Geldes«), dann auch zahlreiche Comedy-Programme aus Südamerika, Afrika und ganz Europa überschreiten den Tellerrand der amerikanisch-linkspolitischen Bubble und geben faszinierende Einblicke in menschliche Realitäten und Fantasien frei.

So macht Fernsehen Spass.

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