Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Leben in der Stille: Von der Stadt ins Dörfli

604 Personen zählt mein neuer Wohnort, aufgeteilt auf ein Dörfli und drei Weiler. Hier gibt es vor allem eins: Nichts, und davon viel. Kein Lädeli, kein Kafi, niente.

Der Entscheid hierherzuziehen, kam ebenfalls aus dem Nichts – niemals hätte ich damit gerechnet, im Tessin, direkt an der Grenze zu Italien zu landen. Ich wusste einzig, bitz mehr grün und bitz mehr Ruhe hätte ich gern. Und dann hat mir eine Freundin ein Inserat weitergeleitet. Ein renoviertes Tessinerhaus mit einer Aussicht, die dich umhaut. Und so bin ich vor gut drei Monaten mit meinen zwei Katzen und meinen Siebensachen umgezogen. Von einer Stadt mit beinah 450’000 Menschen ins Dörfli mit vielleicht 300.

Kein Verkehr, kaum Menschen rundherum: Die Stille wirkt überwältigend

Ja, ich war mir bewusst, dass dieser Entscheid weitreichende Auswirkungen haben wird. Doch wie weit, das wusste ich nicht und weiss es ehrlich gesagt auch jetzt nicht. Ich habe das so ein Gefühl, dass es zimli tief gehen wird.

Lustigerweise war mir etwa nicht bewusst, wie krass still es sein kann, wenn rundherum vielleicht acht Menschen leben. Statt – wie in der Stadt – ein paar hundert. Wenn die schmalen Gassen im Dorf keinen Verkehr erlauben.

Diese Stille hat mich die ersten Wochen fast erschreckt.

Sie war und ist alldurchdringend, manchmal im Wortsinn überwältigend. Klar war ich auch schon in den Bergen oder an abgelegenen Orten. Doch nie über längere Zeit. Und nie allein. Auch das Sitzen in der Stille, das sich seit Jahren in mir ereignet, hat mich nur teilweise auf dieses Erleben vorbereitet.

Jeder Gedanke ist zu laut

Es war so still, dass jeder meiner Gedanken unnatürlich laut schien. Klar hat es auch hier Geräusche, man hört Kuh- und Kirchenglocken und bitzli Palaver der Nachbarn.

Dennoch, ich konnte gar nicht anders, als die Tage in Stille zu verbringen, quasi 24/7 Meditation. Die Stille durchdrang jeden Winkel dieses Wesens, weglaufen war gar nicht möglich. Das wiederum brachte mehr bisher ungesehenes und unbearbeitetes Material an die Oberfläche.

Ich fühlte mich – einmal mehr – wie eine sich häutende Schlange. All dieses Abstreifen und Loslassen bringt auch stets lustige körperliche Symptome mit sich, ein unstillbarer Durst zum Beispiel oder einen Gestank, den ich so an mir sonst nicht kenne.

Ja es wäre nicht richtig, diese Stille und ihre Auswirkungen zu romantisieren.

Angenehm ist anders, da sich die Illusion von Kontrolle einfach auflöst. Doch das ist gleichzeitig genau das, was ich mir wünsche.

Ich möchte ja immer weiter in diese Freiheit hineinfallen, die Freiheit, die aufgeht, wenn ich mich immer und immer wieder häute. Wobei es eher ein «gehäutet werden» ist, mein separates Selbst hat hier wenig zu melden.

Erinnerungen an vergangene Leben?

Meine neuen Nachbarinnen erzählen mir, das Dorf sei ein Kraftort und früher als Ganzes ein Kloster gewesen. Ob das so stimmt, weiss ich nicht. Doch das Internet erzählt mir, dass die erste Erwähnung im Jahr 1335 belegt ist.

Klar spürbar ist für mich auf jeden Fall, dass hier schon viele Menschen viele Stunden gebetet haben und still waren. Eine Atmosphäre, in der sich mein Wesen sehr wohl fühlt. Ich muss wohl einige Leben als Nonne und Mönch verbracht haben.

Es hat etwas Klösterliches, mein Leben, auf jeden Fall. Das war auch in der Stadt schon so.

Dennoch möchte ich mich diesmal nicht einfach der Welt entziehen und mich abwenden vom alltäglich-menschlichen Gstürm. Dieses ist viel zu liebenswert und freudvoll. Ich bin ein grosser Fan der tantrischen Tradition, die ein volles «In-der-Welt-sein» propagiert.

Kein «entweder oder»

In der Welt, wie sie ist, mit all dem Mühsamen und Schwierigen. So bin ich zum Beispiel immer mal wieder zurück in Zürich und finde das grossartig. Zwei Tage lang mit der Stadt zu spielen, Freunde zu sehen, im Kafi Dihei zu essen, Workshops zu besuchen, das alles macht mich sehr glücklich. Und nach zwei Tagen wieder nach Hause in meine Hügel zu fahren, das macht mich noch viel glücklicher.

Ist das nicht das Schöne an der ganzen Sache? Ich muss mich nicht für ein «entweder, oder» entscheiden, sondern kann beides leben. Stadt und Dörfli, Tumult und Stille.

Das fühlt sich sehr frei an. Und stimmig für eine Mystikerin im Jahr 2022, nöd?

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