Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Innere Zurückgelehntheit

Die Obsession der Stille ist keine exklusiv christliche Angelegenheit, sondern religionsübergreifend. In der Stille begegnen sich unterschiedliche Kulturen und Konfessionen. Sonst gäbe es keine überkonfessionellen ›Räume der Stille‹. Vor kurzem bin ich an unerwarteter Stelle auf einen Meditationsraum gestoßen: im Brandenburger Tor, dem Wahrzeichen Berlins, einem klassizistischen Sieges- und Triumphmonument aus der Zeit der napoleonischen Kriege.

»Wir schließen wegen Corona eine Stunde früher«, sagt die lächelnde Dame am Empfang, »aber gehen sie ruhig noch ein paar Minuten hinein«. Der ›Raum der Stille‹ ist bis auf einen Stuhlkreis, eine Webarbeit und einen unbehauenen Stein leer. Das Webbild erinnert an eine alte Kulturtechnik und das Fadenspiel des Schicksals. Der Stein hilft beim ›Grounding‹. Zu schnell huschen die Gedanken – der Stein lehrt das Verweilen. Die Wände sind mit einem weißen Stoff bedeckt, der zarte Falten wirft. Ein Hauch von Tageslicht dringt durch die abgedeckten Fenster.

Es ist nicht vollkommen still im ›Raum der Stille‹, aber die Geräusche des Platzes dringen gedämpft ans Ohr der Betenden und Meditierenden. Seit Ausbruch der Pandemie machen vor allem Berliner Anti-Coronamaßnahmen-Demos (›Hygienedemos‹) von sich reden. Aber auch viele andere Themen werden am Brandenburger Tor lautstark verhandelt. Eine kleine Gruppe singt regelmäßig ›Jesus lebt‹. Anderen rufen ›30 Jahre sind genug‹ und schwingen kommunistische Fahnen. Für Anfang Oktober sind Feiern anlässlich des 30. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung geplant.

Vorbild ist der UNO-Meditationsraum

Als Vorbild wird auf einem Flyer der 1954 im UNO-Gebäude in New York eingerichtete und bis heute bestehende Meditationsraum genannt. Die Idee eines überkonfessionellen Raums der Stille ist in der Vorwendezeit im Ostteil Berlins aufgekommen und dann zu einem gesamtdeutschen Projekt geworden. Zu den ehrenamtlich dort Tätigen gehören neben Christen auch Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus, Sikhs und Bahai.

Zwischen Selfie-schießenden Touristen, Demonstranten und schwer bewaffnetem Schutzpersonal der Botschaften existiert also tatsächlich Raum für Stille.

Den ›Raum der Stille‹ im Wahrzeichen Berlins, das auch ein Monument der Wiedervereinigung ist, gibt es bereits seit den Wendejahren, aber er ist leicht zu übersehen. Fast scheint es, als würde sich der Raum nur demjenigen zeigen, der bereit für ihn ist. Die meisten Passanten laufen wie blind an ihm vorüber. Wenn man den ›Raum der Stille‹ aber erst einmal entdeckt hat, verwandelt sich der ganze Platz.

Als ich wieder auf der Straße stehe, merke ich, wie laut es in mir gewesen ist, bevor ich den Meditationsraum betreten habe. Der Raum hat mich mit Stille angesteckt.

Ich setze mich auf eine Parkbank und staune, dass vor mir plötzlich statt grauer Passanten Menschen auftauchen: die ältere Dame, die mit sehr hohen Stöckelschuhen ihrer Jugend nachhängt; ein Geschäftsmann mit Aktentasche und vorausstürzenden Gedanken; ein hagerer junger Mann mit langen Haaren, vielleicht ein Dichter, der aufmerksam seiner Begleiterin zuhört. Nun bin ich selbst inmitten des städtischen Lärms plötzlich eine Oase der Ruhe. Eine beglückende, heilige Erfahrung.

Eine wunderbare Macht

Man kann freilich einwenden, dass es keine große Kunst ist, innerlich zurückgelehnt zu sein, wenn man ein urbaner Flaneur ist, eine Sonntagsspaziergängerin, ein vergleichsweise unbeschwerter Zeitgenosse ohne unmittelbar drängende soziale und sonstige Nöte. Aber wie sieht es aus, wenn man zerrissen ist und voller Sorge, schwer krank oder ein unschuldig Gefangener? Wie kann man dann, wenn man aufgewühlt ist, ruhig sein? Ich verdanke einem sogenannten Komplementärmediziner, einem Heilkundigen, der Menschen in ihrer geistigen und psychophysischen Gesamtheit zu betrachten vermag, eine Metapher:

»Auf der Oberfläche der Seele kann es gewaltige Stürme geben, Schiffsbrüche sogar. Aber die Seele ist weiter und tiefer. Auf dem Grund der Seele kann es trotzdem ruhig sein.«

Kein Menschenleben verläuft ausschließlich im geschonten Modus. Die Frage ist, ob ich mich mit dem Scheitern, der Erkrankung, dem erlittenen Unrecht gänzlich identifiziere oder mir  sage: Es gibt da das Scheitern, die Krankheit, die ungerechte Behandlung, aber meine Seele ist mehr als das. Sie erschöpft sich nicht im Unglück und in der Ohnmacht. Sie ist weiter, größer und tiefer. Auf der Rückseite des Flyers des ›Raums der Stille‹ stehen ein paar schlichte, aber einprägsame Zeilen eines großen Berliners, Dietrich Bonhoeffer:

»Es liegt im Stillesein

eine wunderbare Macht

der Klärung,

der Reinigung,

der Sammlung auf das Wesentliche.«

 

Photo by Robin Schreiner on Unsplash

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