Das individualistische Mantra
Finde deine eigene Stimme! Lass dir von niemandem was einreden, geh’ deinen eigenen Weg! Egal was andere sagen: Verfolge deine Träume! Gefühlt die Hälfte aller Kinofilme, ganz sicher aber drei von vier Disneyproduktionen lassen sich auf einen dieser Sätze verdichten.
Wir leben in einer hochindividualisierten Gesellschaft, die ihren Teilnehmern von klein auf geradezu gebetsmühlenartig beibringt, dass es kein Patentrezept für ein geglücktes Leben gibt – außer eben demjenigen, dass jeder sein Glück selbst finden muss.
So ist letztlich jeder auf sich gestellt. Auch Eltern können ihren Kindern höchstens noch helfen, zu sich selbst zu finden. Ihnen Vorgaben zu machen und sie auf einen bestimmten Weg zu schicken, ist schon ein potenzieller Eingriff in ihre individuelle Selbstverwirklichung.
Erodierte Vertrauenswürdigkeit
Ich weiß, ich überzeichne.
Aber es ist doch schwer in Abrede zu stellen, dass es zu den selbstverständlichen Voraussetzungen der spätmodernen Existenz gehört, dass die großen institutionellen Sinnstifter der Vergangenheit ihre Vertrauenswürdigkeit eingebüßt haben.
Dazu gehören nicht nur die Kirchen, sondern auch zahlreiche ideologische Systeme und gesellschaftlichen Utopien. Sie haben ihre Welterklärungskompetenzen zumal nach Einschätzung einer breiten Öffentlichkeit verspielt und finden höchstens als Lebensoption des Einzelnen noch ihre Berechtigung.
Die eigene Stimme finden
Man kann diese Entwicklung jetzt bedauern und sich nach den «guten alten Zeiten» zurücksehnen, in denen noch ein verbindlicher Wertekanon geteilt wurde und ein gemeinsames Narrativ die Dinge wenigstens vordergründig zusammenhielt.
Oder man kann sie als überfälligen Befreiungsschlag begrüßen, der die Gesellschaftsteilnehmer endlich aus den institutionellen und ideologischen Engführungen ins offene Land der freiheitlichen Lebensgestaltung führt.
Unübersehbar ist jedenfalls, dass es gar nicht so einfach zu sein scheint, »seinen eigenen Weg« zu gehen und seine «individuelle Stimme» zu finden. Nicht wenige finden sich in der neuen Unübersichtlichkeit der Lebensmöglichkeiten nur schwer zurecht. Und manche werden mit dem Mantra der Selbstverwirklichung auch einfach nicht glücklich.
Das Peterson-Syndrom
Indizien dafür sind nicht nur die überquellenden Regale von Lebensratgebern und Selbstfindungshilfen in den Buchläden, sondern auch die Popularität neuer Welterklärer, deren Anhängerschaften sich zu regelrechten Bewegungen auswachsen.
Der kanadische Psychologe und Pop-Wissenschaftler Jordan Peterson hat nicht nur mit seinen «12 Rules for Life» die Büchercharts zahlreicher Länder angeführt, sondern auch Millionen begeisterter Follower gewonnen, die ihren Meister regelrecht verehren und seinen Weisheiten folgen.
Natürlich könnte man diese Phänomene jetzt als Kollateralschäden der neuen Freiheit abtun: Es gibt halt immer ein paar unsichere und willensschwache Existenzen, die nach Orientierung suchen, weil sie von der Offenheit des spätmodernen Lebens überfordert sind… Den damit bezeichneten Menschen wird man so aber kaum gerecht.
Die Anziehungskraft von Verantwortung
Spannend ist ja, dass etwa die Anhängerschaft eines Jordan Peterson bei näherem Hinsehen zumeist keinen labilen, hilfsbedürftigen Eindruck macht. Vielmehr scheint es sich auf weiten Strecken um Menschen zu handeln, die mit Schaffenskraft und Lebensmut ausgestattet sind (oder diese Eigenschaften wiedererlangt haben) und in ihrem Umfeld einen Unterschied machen möchten.
Nicht von Ungefähr spielt bei Peterson der Begriff der Verantwortung eine tragende Rolle:
Allem Anschein nach möchte er Menschen nicht einfach auf den Pfad persönlicher Glückssuche schicken, sondern ihnen helfen, ihre «Pflicht» zu tun und ihre Möglichkeiten zum Wohl der Gesellschaft auszuschöpfen.
Dass man damit heute noch die Massen mobilisieren kann, sollte zu denken geben.
Tugendethik
Zugespitzt könnte man sagen:
Es sind oft nicht die Verunsicherten und Orientierungslosen, die sich nach überindividuellen Herausforderungen ausstrecken, sondern diejenigen, denen die individuelle Selbstfindung allzu flachbrüstig erscheint. Das moderne Selbstverwirklichungsmantra ist ihnen nicht zu viel, sondern zu wenig.
An dieser Stelle aber sind wir wieder erstaunlich nahe bei dem, was bei den alten Griechen die Tugendethik kennzeichnete: Ein Leben, das sich an bestimmten Werten ausrichtet und Verantwortung für etwas Größeres zu übernehmen bereit ist.
Das mag schon in der Antike eine ausgesprochen anspruchsvolle Lebensvorlage gewesen zu sein – in der Komplexität unserer globalisierten Wirklichkeit ist es jedenfalls nicht einfacher geworden.
Gut aber verdammt schwierig
Was also ist ein gutes Leben?
Wenn an der Ahnung derer, die einen ungebrochenen Individualismus als Unterforderung verabschieden und sich stattdessen vom Ruf in die Verantwortung locken lassen, etwas dran ist, könnte man vielleicht sagen:
«Gut» verdient ein Leben dann genannt zu werden, wenn die Person, die es führt, ihre Stimme und ihren Weg nicht in Verleugnung oder auf Kosten anderer findet, sondern in der Verwirklichung der eigenen Möglichkeiten zum Wohle vieler.
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