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 Lesedauer: 4 Minuten

Grief!

Meinen ersten Anfall von Ökokummer hatte ich als Schülerin. Es war Winter und wir hatten Tiefschnee. Auf einmal verliessen Bienenschwärme die Bienenkisten. Die Tiere suchten anscheinend einen neuen Ort. Die eisigen Temperaturen machten sie flügellahm. Sie sanken hinter unserem Haus nieder, einige zappelten noch bis zum Abend. Am nächsten Morgen lagen tausende erfrorene Bienen auf dem Schnee. Erwachsenen war das Ereignis so unerklärlich wie Kindern. Ich mochte tagelang nicht mehr vor die Türe gehen.

Auffälligkeiten und Veränderungen in unserer natürlichen Umgebung bleiben nicht ohne psychologische Spuren. Es fühlt sich ein wenig an wie eine Veränderung am eigenen Körper, wenn auch zunächst weniger alarmierend.

Ein grundlegendes Sicherheitsgefühl oder Urvertrauen in die Ordnung der Dinge gerät ins Wanken. Bohrende Fragen kommen in Gang. Was sind die Ursachen? Was kommt als nächstes auf uns zu? Ist das Geschehen ein Zeichen für Schlimmeres? Unabhängig davon, ob sich Gründe und Schuldige finden lassen, trübt sich die Stimmung ein.

Wir sind es gewohnt, Verlustschmerz und Trauer vor allem bezogen auf den Tod liebgewonnener Menschen zu denken und fühlen. Mit einschneidenden Veränderungen von Landschaften, der globalen Erwärmungskatastrophe und dem daraus resultierenden, immer schnelleren Aussterben – tagtäglich verschwinden rund 150 Arten unwiederbringlich von unserem Planeten – aber weitet sich der Kummer aus.

Leute und andere «Kritter»

Unter den ersten, die Umweltschmerz thematisiert haben, war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg der amerikanische Forscher und Naturschützer Aldo Leopold: «For one species to mourn the death of another is a new thing under the sun.» («Dass eine Spezies den Tod einer anderen beklagt, ist neu unter der Sonne.»)

Heute weisen Intellektuelle wie der französische Philosoph, Anthropologe und Soziologe Bruno Latour («Kampf um Gaia», «Das terrestrische Manifest») oder die amerikanische Wissenschaftstheoretikerin und Ökofeministin Donna Haraway («Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän») auf das existenzielle Verwobensein von «Leuten und anderen Krittern» hin, die «Critical Zone» (der schmale belebte Streifen der Erde) und die Notwendigkeit umzusteuern.

Nach Angaben des Weltbiodiversitätsrats IPBES sind etwa eine Million von acht Millionen Tier- und Pflanzenarten akut vom Aussterben bedroht.

Das sechste Massenaussterben

Dieses in der Geschichte des Planeten sechste grosse Artensterben ist nach übereinstimmenden Angaben vieler Wissenschaftler*innen und Naturschützer*innen keine Naturkatastrophe, sondern menschengemacht; verursacht durch den hochtourigen zivilisatorischen Lebensstil, die industrielle Zerstörung von Lebensräumen, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden.

In manchen Erdgegenden sind Auswirkungen auch für Menschen bereits existenziell bedrohlich. In dem Mass, in dem der Bewegungsradius der Inuit in Labrador durch Eisschmelze eingeschränkt wird, nehmen psychische und physische Erkrankungen signifikant zu. Gefühle wie Frustration, Ärger, Traurigkeit und Verzweiflung sind verbreitet. Ähnlich reagieren im westlichen australischen Wheatbelt Farmer auf das Austrocknen ihres Farmlandes und das buchstäbliche Wegfliegen der Erde.

Kummer macht, die von Vätern und Müttern erlernten Kulturtechniken nicht an Kinder und Enkel weitergeben zu können, da veränderte Lebensumstände geerbtes Wissen nutzlos machen.

Betroffene werden auch vom Gefühl gequält, irgendwie selbst schuld zu sein, als Farmer versagt zu haben. Herzzerreissende Stimmen finden sich in dem Artikel «Hope and mourning in the Anthropocene: Understanding ecological grief».

Ökologische Care-Ethik

Es muss erst ein Vokabular gefunden werden für psychische Reaktionen und den Kummer, der aus menschengemachten Ökoveränderungen resultiert. Im Englischen finden sich Begriffe wie «ecological grief», «climate grief» oder «eco-anxiety» zur Benennung von spezifisch auf Ökoveränderungen bezogener Gefühle. Relativ neu ist der Neologismus «Solastalgia» aus sōlācium (Trost) and der griechischen Wurzel -algia (Schmerz): eine Form von Heimweh, während man noch zu Hause ist, typisch für ökologischen Verlustschmerz.

Rituale des Betrauerns, die anders-als-menschliche Geschöpfe und den Verlust der gewohnten Umgebung und Landschaften einschliessen, müssen erst entwickelt werden. Auch brauchen wir eine ökologische Care-Ethik.

Das englische «care» (Fürsorge, Schutz, Obhut, Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Vorsicht, Leitung und Pflicht) ist aus der althochdeutschen Wortwurzel «kar» abgeleitet, was schreiende Wehklage, Kummer, Trauer bedeutet und sich im Deutschen nur noch in Begriffen wie «Karfreitag» oder «Karwoche» erhalten hat.

Vielleicht ist der Karfreitag, der in diesem Jahr unter dem Schatten der Pandemie steht, der geeignete Tag, um über neue, gemeinsame und kreative Formen des Betrauerns nachzudenken, die anders-als-menschliche Wesen einschliessen: damit der andauernde Ökozid aufhört, als abstraktes Problem wahrgenommen zu werden.

Zur Frage des Verhältnisses von Anthropozän-Diskurs und Theologie findet im Juli 2021 (15-17.07) eine internationale Konferenz mit dem Titel «Theology in the Anthropocene» der Universität Bonn statt. «The anthropocene does not constitute an ethical challenge alone. Rather, it calls for a radical revision of hegemonic notions of the human being and its relation to the more-tan-human world», heisst es in der Ankündigung.

Extinction Rebellion September 2020 in London. Foto von Ehimetalor Akhere Unuabona auf Unsplash.

2 Kommentare zu „Grief!“

  1. Vielen Dank für den sensiblen Beitrag! Das Thema passt sicher gut in die Oster- und Passionszeit. Überall wo von Menschenwürde und -rechten die Rede ist, schiene mir allerdings wichtig, dass die Kirchen auf den engen Zusammenhang mit Umweltschutz und Tierschutz bzw. Beachtung von Tierwohlkriterien aufmerksam machen.
    Leider geschieht das viel zu wenig, und auch die UNO-Deklaration für eine Weltweite Tierschutzerklärung (Universal Declaration on Animal Welfare, UDAW) ist noch immer im Entwurfsstadium steckengeblieben.
    Wie es in der deutschen Wikipedia-Fassung heisst: «Die zentrale Aussage der „Weltweiten Tierschutzerklärung“ ist die Anerkennung der Tatsache, dass Tiere fühlende Lebewesen sind und daher Respekt und Rücksichtnahme verdienen. Die unterzeichnenden Staaten erklären darin, dass das Wohlergehen ein gemeinsames Ziel aller Länder ist und verpflichten sich, alle notwendigen Schritte zur Verhinderung von Tierquälerei und zur Minderung des Leides der Tiere zu unternehmen. Die bereits in einzelnen Ländern erreichten Standards bezüglich des Wohlergehens der Tiere sollen durch verbesserte nationale und internationale Maßnahmen gefördert, anerkannt und eingehalten werden.»
    Vielleicht könnten hier die Kirchen wirklich mithelfen, etwas in Bewegung zu setzen, das letztlich allen zugute kommen wird.

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