Echter Karfreitag
Nun ist der Karfreitag im christlichen Glauben aber nicht einfach ein austauschbares Spannungselement und nicht nur eine dramatische Zuspitzung in der Biografie Jesu, sondern der entscheidende Moment in der Weltgeschichte, indem sich Gott selbst zu erkennen gibt. Darum greifen all die wohlmeinenden Aktualisierungen und Erklärungen zu kurz, die das Kreuz und den Tod lebensweltlich einholen wollen: «Christus ist mit den Leidenden. Er hat selbst gelitten.» «Manchmal gehen wir durch einen Tunnel, aber am Ende ist es hell.» Es stimmt zwar irgendwie, aber man kann sich das Leid anderer auch ohne Christus zu Herzen nehmen und «das Licht am Ende des Tunnels» verharmlost möglicherweise sogar das gegenwärtige Leid.
Ein echter Karfreitag müsste aushalten, dass ungerecht, zu früh, sinnlos und grausam gestorben wird. Manchmal ohne dass wir uns letzte Worte geben können, die Zerbrochenes kitten. Ein echter Karfreitag gehört auf die Seite der Welt. Dort ist jedem Leben nur gewiss, dass es vergehen wird. Wer an Karfreitag schon von Ostern redet, mag ein fröhlicher Christ sein. Aber vielleicht auch nur ein ungeduldiger Mensch. Karfreitag und Ostern sind kein Prinzip, das nach einer bestimmten göttlichen Logik zum Zug kommt und uns allen Trost spendet. Karfreitag ist die Lebenswirklichkeit, von der Jesus sagt, dass wir sie fürchten: «In der Welt habt ihr Angst.» Unsere Gegenwart und unser Leben stehen nicht einfach in einem österlichen Licht, das auch noch den finsteren Karfreitag erleuchtet.
Kein Gott hält den Tod auf
Die Wirklichkeit ist eine andere. Wir werden geboren, bemühen uns um Wissen, darum, das Richtige zu tun, werden krank oder verunfallen, scheiden aus dem Leben, werden nicht ersetzt oder gerettet, sondern sind nicht mehr. Im Leben wissen wir, dass wir sterben werden. Weil das Christentum aber schon immer an Ostern denkt, bietet es kaum Platz für diese Wirklichkeit. Sterben angesichts ewigen Lebens ist kein echter Tod. Das ist eher eine Transformation. Ungerechtigkeit angesichts ewigen Lebens ist nur ein Durchgangsstadium. Und eine Person erst eine Entwicklungsstufe. Ostern macht die ganze Welt zu etwas Uneigentlichem, wenn sie nicht als Kontrapunkt, sondern als Zentrum der Gottesoffenbarung begriffen wird. Der Karfreitag hingegen gibt sich dieser Lebensrealität hin: Die Gerechtigkeit siegt nicht, die gute Macht triumphiert nicht, kein Gott hält den Tod auf. «In der Welt habt ihr Angst.»
Überwinden
Die Bibel ist voller Angstgeschichten: Eva und Adam fürchten sich vor Gott, Noah vor dem Aussterben, Sarah vor der Unfruchtbarkeit, Esau vor dem Statusverlust, David vor seinem Sohn, Israel vor den Babyloniern, Hiob vor Ungerechtigkeit, Jesus vor dem Tod und seine Nachfolger*innen vor der Verfolgung. Die Karfreitagsgeschichte erzählt nicht, dass Gott lieb ist, die Menschheit nicht vom Aussterben bedroht sei oder Jesus nicht gestorben wäre. Sie erzählt die Geschichte von einem, der geopfert wird und der, indem er selbst dieses Opfer auf sich nimmt, etwas findet, das grösser ist, als seine Angst. «Seid getrost. Ich habe diese Welt überwunden.» Das ist nicht die Vertröstung, dass alles wie durch Zauberhand gut kommt. Das wäre kindisch und realitätsfremd. Für die meisten kommt es nicht gut. Und für alle steht am Schluss der Tod. Tröstend am Karfreitag ist, dass Jesus indem, was offensichtlich sein Scheitern beschreibt, seine Freiheit von der Welt findet. Gegen jeden Augenschein kann es uns passieren, dass wir im Leid, im Schmerz und in der Überforderung nicht vor Furcht erstarren, sondern frei werden. Sterben müssen wir trotzdem. Aber das soll uns nicht daran hindern, die Welt zu überwinden.
Karfreitag – vor Ostern – bedeutet für mich, dass ich ohne Gerechtigkeit und ohne, dass Gott zaubert, und ohne, dass es jemand bemerkt, Frieden finden und frei werden kann. Hoffentlich. Gott selbst hat das ja auch geschafft.
Foto von Felipe Hueb von Pexels
2 Gedanken zu „Karfreitag ohne Spoiler“
Danke, das lässt mich nachdenken…
Interessant, dass Jesus das laut Johannesevangelium gesagt hat, bevor er starb und auferstanden ist (und nicht: ich WERDE die Welt überwinden durch meinen Tod, meine Auferstehung etc.)!
Wow – wirklich hilfreicher und inspirierender Blickwinkel! Erfahren haben diesen Blickwinkel Menschen wie Etty Hillesum, Alfred Delp, Johannes vom Kreuz et.
Danke für diese (auch originell geschriebenen) Einsichten!