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 Lesedauer: 6 Minuten

Genug gebetet!

In einem aktuellen christlichen Magazin wird eine „einfache, regelmässige Gebetszeit von 30 bis 60 Minuten“ beschrieben [1]. Ich habe erst einen kurzen hysterischen Lachanfall gekriegt, dann ist mir das Lachen im Hals stecken geblieben und die Aussage hat mich betroffen gemacht. Denn wenn 30 bis 60 Minuten „einfach“ sind – was sind dann meine 30 bis 60 Sekunden pro Gebet?

„Der Glaube an Gott ist wie eine Beziehung. Wenn du willst, dass die Beziehung gut ist, verbring viel Zeit mit Gott, beim Lesen der Bibel, beim Beten, in der Kirche.“

Damit bin ich aufgewachsen. Die (Post-)Evangelikalen unter meinen Leser*innen kennen diese Philosophie – und den Druck, den sie auslöst. Ich sage nicht, dass der Vergleich mit der Beziehung falsch ist. Aber wer schafft das schon, richtig viel Zeit mit Gott? Schliesslich kann man Gott nicht zum gemütlichen Apéro treffen und das Gebet ist kein Gespräch, das sich wie zwischen Menschen in einem stetigen Dialog entwickelt, wo man die Zeit einfach vergisst.

Moderne Mönche und heilige Disziplin

Doch es gibt sie, diese modernen Mönche, die sich regelmässig tagelang exklusiv Zeit nehmen für Gott. Etwa der Sozialdiakon, von dem ich gehört habe, er gehe jeden Monat für einen Tag in eine Waldhütte, ohne Smartphone, nur mit Bibel und Tagebuch. Oder der Missionar, der in seinen Update-Mails beiläufig beschreibt, wie er in seinem „stillen Kämmerlein“ betet und auf Gott hört.

Früher habe ich solche Menschen als Vorbilder gesehen und versucht, mir eine tägliche „stille Zeit“ anzugewöhnen, die mindestens eine Viertelstunde dauert. Und bin damit jedes Mal schon am zweiten oder dritten Tag gescheitert. Entweder ich hatte schon morgens Termine oder Vorlesungen. Oder ich empfand es als verlockender, mich direkt in die Arbeit zu stürzen. Und manchmal fand ich einfach keine innerliche Ruhe.

„Gamification“ der Spiritualität

Eine spirituelle Routine ist wertvoll und wohltuend – ich möchte keinesfalls sagen, dass es schlecht ist, sich eine „stille Zeit“ anzugewöhnen. Auch, sich an Vorbildern zu orientieren, die viel Zeit im Gebet verbringen, mag gut sein – solange die Glaubenstiefe dieser Vorbilder nicht bloss darüber definiert wird, sondern über ihre Integrität, Authentizität und Nächstenliebe. Aber das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“, und das gilt auch für dieses Mindset.

Um eine lange „stille Zeit“ zu schaffen, braucht es Zeit, Geduld, Planung und Übung in Kontemplation oder Meditation. Das Wort „schaffen“ bringt das Problem aber auf den Punkt: Die Aussage „Verbring möglichst viel Zeit mit Gott“ will motivieren – de facto erreicht es das Gegenteil. Es bewirkt frommes Leistungsdenken, Druck zur religiösen Selbstoptimierung. So misst die Bibel-App „YouVersion“ das „Momentum“ der User: Ganz oben auf der Startseite wird angezeigt, an wievielen Tagen hintereinander man die App geöffnet hat. Sind es 7, hat man eine „Perfekte Woche“ geschafft und kriegt einen Stern. Eine von Snapchat abgeschaute, fragwürdige „Gamification“ der Spiritualität, die nichts über Qualität der Bibelzeit aussagt.

Schlussendlich sitzt du also mit Blick auf die Uhr im Gebet, und egal, wie lange du betest, es ist nie genug. Du verbringst nie genug Zeit mit Gott. Es ist immer ein Fail. Auch wenn es tatsächlich 30 Minuten täglich wären (und das ist nicht wenig), ist das nur ein kleiner Teil der verfügbaren Zeit. Warum bringst du es nicht auf 60 Minuten? Klar: „Gott hat in deinem Leben nicht Priorität“ – um es in evangelikaler Sprache auszudrücken. Wer sich ständig unter Leistungsdruck fühlt und sich vergleicht, hängt mit der Zeit ab: „Ich schaffe das ohnehin nicht, also versuche ich es gar nicht erst.“

„Stille Zeit“ als Machtinstrument der Männer-Religionen

Täglich 30 bis 60 Minuten Gebetszeit ist nicht mit der Lebensrealität der meisten Menschen vereinbar, wo der Job viel fordert und Kinder oft die Freizeit beanspruchen. „Das schaffen doch nur Menschen, zu deren Beruf das gehört“, sagte mir ein Bekannter. Und ich behaupte: nicht mal die. Kirchliche Berufe gehören erwiesenermassen zu denen, wo der Leistungs- und Erwartungsdruck regelmässig zu Burnouts führt.

Die Problematik hat auch einen Gender-Aspekt, behaupte ich: Die „stille Zeit“ zu idealisieren, ist bis heute Teil der männlichen Machterhaltung in den Religionen. Nicht nur im Christentum sind diejenigen, die sich dem Studium und Kontemplation widmen können, traditionell vor allem Männer; auch im konservativen Islam und im orthodoxen Judentum sind sie die „Gelehrten“. Frauen und vor allem Mütter, die traditionell Care-Arbeit leisten und wenig Freizeit haben, leiden so ständig an einem Defizit: Wer dreimal nachts zum Stillen aufsteht und froh ist, wenn sie mal Zeit zum Haarewaschen hat, kann von „stiller Zeit“ nur träumen.

Ja, es ist eine Frage der Priorität – was für den Sport gilt, kann man auch hier sagen. Ich kenne durchaus Mütter, die sich frühmorgens, bevor die Kinder wach sind, Zeit nehmen für sich und Gott. Aber nicht, weil es einem Frömmigkeitsideal entspricht, sondern weil es ihre einzige Zeit für sich ist, von der sie danach den ganzen Tag zehren. Manche verbringen auch jedes Jahr ein paar Tage an einem Ort, wo Gebetskultur gepflegt wird; sei es Taizé, das Lassalle-Haus oder das „Ländli“. Urlaub für die Seele – auftanken mit Gott. Doch auch das muss man sich leisten und einrichten können.

„Espressogebet“ und andere Alternativen

Ich plädiere dafür, wegzuschauen von Defiziten und sich auch an den kleinen Momenten zu freuen, in denen man sich Zeit nehmen kann fürs Gebet, für spirituelle Übungen oder Lektüre. Ich setze auf „Qualität statt Quantität“ – im Wissen, dass die entscheidende Qualität bedingungslos gegeben ist: Gott wendet sich mir zu und liebt mich. Wenn ich mir das bewusst mache, kann ich entspannt durch den Tag gehen und mich getragen fühlen. Dann ist „das ganze Leben Gebet“, wie Martin Luther gesagt haben soll.

Auch Kürzest-Gebete sind wertvoll. Jemand erzählte mir vom „Espressogebet“: 70 Sekunden für den Espresso und ein Gebet oder das Lesen der Tageslosungen. Für mich ist es das Herzensgebet, „Du in mir, ich in dir“, das ich vor Begegnungen oder bei Herausforderungen gerne bete, und dabei bewusst ein- und ausatme.

Dennoch versuche ich nach wie vor, jeden Morgen vor der Arbeit einen bewussten Start zu gestalten. Aber ich habe gemerkt, dass es manchmal auch nicht funktioniert – und dass das in Ordnung ist und ich mir deswegen keinen Stress machen soll. Eine weitere Beobachtung ist, dass ich Abwechslung brauche: Einmal ist es eine kurze „Tagebuch-Gebetszeit“, oder ich schreibe die Namen von Freund*innen und Familienmitgliedern auf, an die ich im Gebet denke. Mal lese ich die Tageslosung und den dazugehörigen Abschnitt in der Bibel. Manchmal lese ich halblaut ein vorformuliertes Gebet aus einem Buch, z.B. von Andrea Schwarz, oder höre mir die Andacht der App „Pray as you go“ an.

Und manchmal, wenn ich keine innere Ruhe finde, schliesse ich nur kurz die Augen und bitte Gott, mich während des bevorstehenden Tages zu tragen. Das ist genug – vollkommen genug.

[1] Der Satz ist mir beim Überfliegen des Artikels aufgefallen. Im Kontext sagt er jedoch etwas ganz anderes aus und der Artikel als Ganzes stellt klar, dass Gebets-Ideale falsch sind. Hier der Link dazu.

Photo by Austin Ban on Unsplash

14 Kommentare zu „Genug gebetet!“

  1. Wenn über das „Gebet“ gesprochen wird, ist das auch eine Frage der Definition. Jeder Mensch hat seine Vorstellung und bringt seine Prägung mit. Am besten orientieren wir uns an der Bibel. Sie beinhaltet viele Varianten des Gebets. Und die können auch erweitert werden. Lange oder kurz beten? Aus meiner Sicht kann man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Kürzlich habe ich das Buch von Bernhard Meuser: „Beten – eine Sehnsucht“ gelesen. Jean Vianney Pfarrer von Ars in Frankreich lernte von einem Bauern, der still und vergnügt in der Kirche sass. Als Vianney ihn fragte, was er da tue, antwortete er: „Er schaut mich an – ich schaue ihn an. Das ist alles.“ Vianney hatte seinen Lehrer gefunden. – Beten – es soll aus Liebe zu Gott geschehen und nicht als Druckmittel gebraucht werden.

  2. Kann ich verstehen. Ich kenne diesen Druck auch, den man sich selbst macht und er ist teilweise echt schrecklich. Lass versuchen, eine mögliche Alternative zu finden 😀

  3. Danke für den Blogbeitrag, finde alles bestens inkl auch den Kommentar von Pater Brown. Ich fühle mich — als Autor des erwähnten Artikels — allerdings leicht missverstanden. Das Heft/der Artikel hat den Schwerpunkt „Gemeinsam beten“, und die 30-60 Minuten beziehen sich — wenn man genau liest – vor allem auf eine regelmässige, z.B. wöchentliche gemeinsame Gebetszeit z. B. für die (Kirch-)Gemeinde. Natürlich fliessen auch Gedanken zum persönlichen Gebet mit ein, aber davon abzuleiten, ich würde im Artikel zu einer täglichen Stillen Zeit von 30-60 Minuten aufrufen – und damit den Leuten einen nicht realisierbaren Massstab auferlegen, stimmt so nicht. Ich bin sehr für kurze und Espressogebete, finde allerdings dann und wann etwas längere Zeiten mit Gott für die Beziehungstiefe und Reflexion schon auch wichtig. Ich würde aber nie ein Gesetz draus machen. Eben: Kurze und längere Gebetszeiten nicht gegeneinander ausspielen…

    1. Evelyne Baumberger

      Lieber Herr Höhn, danke vielmals für Ihren Kommentar! Ich hatte Ihren Artikel erst nur überflogen, und die Zeitangabe rief mir beim schnellen Drüberlesen Gebets- und Glaubensideale aus meiner Jugend in Erinnerung, denen ich mit viel Engagement, aber vergeblich nacheiferte, was mich schlussendlich für einige Zeit ganz vom Glauben wegbrachte. Im Tweet, den ich unter dem Eindruck dieser Erinnerungen abgesetzt habe, habe ich die Publikation des Artikels genannt und damit tatsächlich einen falschen Zusammenhang hergestellt. Das tut mir leid, es war ein Schnellschuss und sachlich falsch. Gestern habe ich dazu bereits eine Korrektur veröffentlicht, nachdem mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat. Ich kann den Tweet aber auch ganz löschen, wenn Sie das möchten; ich habe ihn bis jetzt gelassen, weil ich die Kommentare dazu vielfältig und spannend finde.

      Im Blogpost nehme ich jedoch nicht direkt auf Ihren Artikel Bezug, sondern auf eine „Stille-Zeit-Kultur“, die Leistungsdruck erzeugt. Ich versuche, mit meinen Artikeln Menschen abzuholen, die auf einem ähnlichen Weg sind wie ich: Die in einer Gemeindekultur aufgewachsen sind, in der eine ganz bestimmte Art von Christsein alternativlos gepredigt wird, und die an dieser Art von Christsein gescheitert sind. Ich habe auf den Tweet und den Blogpost viele Reaktionen erhalten von Leuten, die diesen „frommen Leistungsdruck“ kennen. Dass Sie „Gebets-Ideale“ auch selbst nennen und sich dagegen abgrenzen, zeigt, dass diese durchaus eine Gefahr sind. Im Link in der Fussnote schreibe ich jedoch explizit, dass Ihr Artikel diese Ideale nicht propagiert. Ist das Ihres Erachtens noch zu wenig deutlich? Dann kann ich den Link auch ganz entfernen.

      Liebe Grüsse!

      1. Danke, Frau Baumberger, für die gute Antwort, und ja, Gebetsideale und Bilder, wie es sein sollte (so verstehe ich das 2. Gebot „Du sollst dir kein Idealbild machen“) sind wirklich ein Killer. Mir selbst hat es sehr geholfen, genau auch dafür zu beten, dass Gott mir den Weg zeigt, wie ich die Beziehung zu ihm so pflegen kann, dass es lebt und belebt. Und das ist ja auch je nach Lebensphase wiederganz neu herauszufinden. Alles Gute und Sie dürfen den Link gerne drin lassen😉
        Herzlich Peter Höhn

        1. Evelyne Baumberger

          Danke vielmals! Dieses Verständnis ist so befreiend: Dass Nachfolge und Glaube nicht nach Rezept möglich ist, sondern eben persönlich ist, zeit- und kontextgebunden. Alles Gute Ihnen!

  4. Manfred Reichelt

    Früher war Gebet für mich auch immer nur ein frommes Muss. Jetzt bete ich im gebräuchlichen Sinn überhaupt nicht mehr. Bei mir gibt es keine Gebetszeiten. Dafür bete ich ohne Unterlass (1. Thess. 5,17). Das geschieht natürlich nicht in Worten, sondern ist immer wieder natürliche Besinnung auf das, was ich in meiner wahren Natur (der göttlichen) bin und mir demzufolge möglich ist.
    Hier ein Beispiel: https://manfredreichelt.wordpress.com/2019/01/04/tiefen-entspannung/
    Der Sinn des Gebetes ist ja positive Veränderungen hervorzurufen und damit Verbesserung der Lebensqualität. Und wer möchte sein Leben nicht verbessern? Dem dient doch alle Tätigkeit des Menschen.

    1. Evelyne Baumberger

      Danke für Ihren Kommentar! In einem Punkt würde ich widersprechen: Sinn des Gebets ist m.E. nicht Verbesserung der Lebensqualität, bzw. nur indirekt. Sinn des Gebets ist für mich Kommunikation mit Gott.

      1. Manfred Reichelt

        Die Frage ist ja, was ist der Sinn meiner Kommunikation mit Gott, zumal die ja nicht so funktioniert wie zwischen zwei Menschen? Wenn mir Gott „nichts bringt“, lässt man es doch sein? Schließlich hat man Wichtigeres zu tun, als seine Zeit nutzlos zu vergeuden.
        Das schöne ist ja, dass uns Gott verheißen hat, dass die Kommunikation mit ihm, das Leben aus ihm, uns von den Beschwernissen des Daseins immer mehr befreit. Und so kann tatsächlich täglich – wenn auch nicht immer merklich (trotzdem aber mit Gewissheit) – die Lebensqualität wachsen.
        Ich habe das hier genauer ausgeführt: https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/04/23/die-taegliche-erhoehung-der-lebensqualitaet/

  5. > Täglich 30 bis 60 Minuten Gebetszeit ist nicht mit der Lebensrealität der meisten Menschen vereinbar, wo der Job viel fordert und Kinder oft die Freizeit beanspruchen.

    Die Entdeckung des Ruhegebets hat mein Bild vom Beten komplett auf den Kopf gestellt. Die Zeiten sind kein Müssen mehr, sondern herbeigesehnte Oasen der Ruhe. Im wortlosen kontemplativen Gebet muss man nicht dauernd überlegen, was man Gott sagen soll, ob man etwas bitten darf oder nicht, oder Fürbitte-Listen runterbeten. Gott weiss was wir brauchen (Mt. 6,8). Man ist stressfrei da in der Gegenwart und verweilt in der Nähe Gottes, die uns schliesslich verändert (2. Kor. 3,18).

    Damit ist mir das tägliche Beten tatsächlich vom Frust zur Lust geworden. Und was mir wichtig ist, dem räume ich automatisch Platz ein. Das braucht mit Job und Kindern etwas Organisation und Unterstützung des Partners, aber ist möglich.

    Eine Zen-Weisheit lässt sich hier auch auf das christliche Gebet anwenden: Meditiere 20 Minuten täglich, es sei denn du hast keine Zeit, dann meditiere eine Stunde. 🙂

      1. Sorry, erst jetzt gesehen, dass da noch eine Frage kam 🙂
        Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Beim Ruhegebet ist es ein kurzes Gebetswort, zu dem man innerlich zurückkehrt, sobald man merkt, dass man Gedanken nachhängt. Es kann aber auch der Atem sein oder ein Achten auf die Handflächen.

        Wenn es dich im Detail interessiert: Ich habe auf meinem Blog mal verschiedene Gebetsformen zusammengestellt: https://wider-deeper.blog/2019/08/22/praxis-des-christlichen-kontemplativen-gebets-ein-ueberblick/

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