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 Lesedauer: 5 Minuten

Fremdscham ist mein Leistungssport

Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob mit mir etwas nicht stimmt. Ich habe das Gefühl, wo andere Menschen zu mindestens 60 Prozent aus Wasser bestehen, bestehe ich zu mindestens 70 Prozent aus Scham.

Ich schäme mich wirklich für unverhältnismäßig viele Dinge unverhältnismäßig oft.

Von Fremdscham bis Eigenscham ist da alles dabei. Ich schäme mich für den Musikgeschmack anderer Leute, falsch zugeknöpfte Blusen und versalzene Kartoffeln. An schlechten Tagen schäme ich mich schon für einen schlechten Witz, bevor ich ihn überhaupt gemacht habe. Ich verbringe wirklich wahnsinnig viel Zeit damit, mich für mich und andere gleich mit zu schämen, aber in den meisten Fällen komme ich dabei mit hektischen Flecken und völlig unangemessenen Kommentaren davon. Wenn mich jemand darauf anspricht, ob ich mich gerade schäme, stehe ich kurz vor der Panikattacke und schäme mich dann noch viel mehr.

Metascham habe ich also auch noch im Repertoire. Toll!

Das volle Programm also, und trotzdem habe ich überhaupt kein Problem, darüber zu schreiben. Komischerweise macht es das sogar besser.

Psychologisches Phänomen „Fremdscham“

Fremdscham befällt die meisten. Der heiße Schauer, der durch unser zentrales Nervensystem zieht, um bis in die Zehenspitzen zu wandern; etwa, wenn wir mit ansehen müssen, wie sich jemand in einer Castingshow blamiert oder der virtuose Sacha Baron-Cohen in einer seiner vielen Kunstfiguren unangenehme, geradezu ignorante Fragen an seine Interviewpartner stellt.

Woran mag es wohl liegen, dass es uns bei den Peinlichkeiten der anderen kalt den Rücken runterläuft? Die gute Nachricht ist: Nicht mal Psychologen sind sich ganz sicher darüber, warum Fremdscham so viele Menschen befällt. Die noch bessere Nachricht ist. Ich bin offensichtlich nicht die Einzige, die sich regelmäßig für andere schämt. Das Phänomen ist sogar so weit verbreitet, dass es dazu mehrere Studien gibt.

Komplexe Gefühle, komplexe Reaktionen

Laut Psychologen ist uns die Fremdscham und Scham im Allgemeinen nicht angeboren wie andere Gefühle. Obwohl es sich oft so anfühlt, als wäre die Scham direkt und von Anfang an in unser Gehirn geknotet. Fremdscham ist eine komplexe Emotion, die wir erst im Laufe unseres Lebens erlernen.

Das Schamgefühl zählt also nicht zu unseren Standardeinstellungen, auf die wir bereits als Säuglinge zugreifen können. Nein, wir lernen erst mit zunehmender Lebenserfahrung, uns in sozialen Situationen zu schämen. Für uns selbst und für andere.

So viel zum Thema „der Mensch ist die Krone der Schöpfung“. Für mich sieht das eher nach einer Fehlkonstruktion aus.

Übrigens gehören zu dieser komplexen Art von Gefühlen auch Stolz und Eifersucht. Ebenfalls Emotionen, die aus sozialen Interaktionen entstehen und eine Vielzahl von unterschiedlichen Reaktionen bei unterschiedlichen Menschen auslösen können. So rätselhaft diese Art von Gefühlen für Psychologen auch ist, bei einem sind sie sich dann doch einig: Nämlich, dass diese Emotionen dazu dienen, soziale Gefüge zu regulieren.

Reaktionen auf Scham werden anscheinend immer dann ausgelöst, wenn eine moralische Norm durchbrochen wird.

Dabei ist es wohl sogar egal, ob derjenige, für den wir uns fremdschämen, absichtlich oder unabsichtlich handelt. Das weiß jeder, der sich schon einmal gefragt hat, ob man sein Gegenüber auf seinen weit geöffneten Hosenstall hinweisen soll oder lieber nicht. Peinlich!

Das tut ja schon beim Zugucken weh

Auffällig war in den durchgeführten Studien zum Thema Schamgefühl und Fremdscham vor allem, dass die Gefühle, die sich beim Durchleben von Fremdscham einstellen, diejenigen Bereiche im Gehirn ansprechen, die auch für physischen Schmerz verantwortlich sind. Mit anderen Worten: Es tut uns weh, wenn wir uns fremdschämen. (Okay, das ist schon fast wieder lustig. Vielleicht ist der Mensch doch die Krone der Schöpfung.)

Die Ausprägung der Fremdscham ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und ich möchte behaupten, das ist auch gut so, sonst würde ja niemand mehr zu irgendwas kommen, wenn wir uns alle tagtäglich nur füreinander schämen würden.

Psychologen sind allerdings davon überzeugt, dass Frauen öfter und intensiver von der Emotion der Fremdscham betroffen sind.

Klar, wir sind ja auch diejenigen, die schon von klein auf zum Empathieempfinden und Mitleidhaben erzogen werden. Da können wir uns ja dann auch noch rund um die Uhr für andere schämen. Danke für nichts, liebe Evolution!

Öfter mal statt Schadenfreude Empathie haben

Aber nicht alles ist schlecht an der Fremdscham. Ja, es ist mehr als unangenehm, sich fremdzuschämen. Vor allem, wenn man selbst ja eigentlich keinen Grund dazu hat. Es ist auch alles andere als klar, warum wir so intensiv mitfühlen, wenn Personen verwundbare Momente haben. Trotzdem ist es doch gut zu wissen, dass unser moralischer Kompass noch lange nicht ausgedient hat.

Und der Begriff „komplexe Emotion“ vermittelt zumindest mir die Illusion, dass ich richtig was geleistet habe, auch wenn ich nur aus Zufall beobachtet habe, wie jemandem beim Runterbeugen die Hose gerissen ist.

Wahrscheinlich ist Empathie das Beste, was uns die Natur gegeben hat. Auch wenn es wehtut, können wir sagen: „Ich fühle deinen Schmerz.“ Dank der Wissenschaft wissen wir sogar, dass das nicht mal übertrieben ist.

Vielleicht ist der peinliche Moment, den wir eh alle schon erlebt haben, gar nicht das Wichtigste. Sondern das Mitgefühl. Empathie verbindet nämlich, der Rest ist schnöde Biologie.

Wenn wir diesen kleinen Funken Empathie jetzt nur noch für etwas mehr nutzen könnten als zur Schadenfreude aus Unterhaltungszwecken, dann könnten wir wirklich stolz auf uns sein. Dann hätten wir nämlich wirklich etwas geleistet mit unserer Fremdscham.

Ich bestehe zu mindestens 70 Prozent aus Empathie. Das klingt doch gleich viel besser, oder?

 

Photo by Benjamin Zanatta on Unsplash

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