Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Fernschreiben aus dem Wald (2)

Hier sitze ich wieder im Wald. Die Vögel zelebrieren, was zu zelebrieren ist, Lüftchen gehen ihrer Wege und von den Bäumen tropft es leise Zuversicht – aber ich bin irgendwie wütend. Weshalb? Vermutlich leide ich unter einem Entschleunigungstrauma.

Vor einer Stunde habe ich meine zu vertraut gewordene Wohnung verlassen. Ich halte mich in diesem Naherholungsparadies Dählhölzli in Bern auf, um hier den Versuch zu unternehmen, ein paar Zeilen über meine gefühlte Systemirrelevanz aufs Papier zu bringen. Keine Sorge, ich erzähle Ihnen nun nicht von der Magie eines weissen Papiers. So schlimm steht es nicht um mich.

Bin ich seit Wochen einfach grundangespannt, weil ich weiss, dass man den Viren nirgends entkommt und mir dies davor zu wenig bewusst war? Rund fünfzig Prozent des menschlichen Erbguts stammt schliesslich von ihnen. Viren gehören zu unserem Leben, zu unserer Umwelt, zu unserer Verdauung. Ohne sie wäre die Evolution ein Schuss in den Ofen der Unvorstellbarkeit (entschuldigen Sie diese hingerotzte Metapher). Wir sind Virus! Aber zurzeit gelten die Viren, die alten Innovationstreiber, primär als Krankmacher. Sie leiden unter einem historischen Umfragetief. Zum Glück müssen Sie nicht in die Politik einsteigen. Sie sind Politik! Das Covid-19-Virus erlebt den Negativhype seines Lebens. Und wird entsprechend von allen Seiten vereinnahmt.

Ich bin übrigens sehr dankbar, wie viele Politikerinnen und Politiker aus allen Lagern genau wissen, was uns das Virus zeigen will. Denn bislang wusste ich gar nicht, dass uns das Virus etwas zeigen will. Aber dazu sind Politikerinnen und Politiker schliesslich da: Sie zeigen uns Dinge, wir nicht sehen können. Ironie off.

Apropos zeigen: Wo sind eigentlich plötzlich all die anderen Probleme hin? In einem schwarzen Loch verschwunden? Wo man nach den ersten Lockerungsübungen auch hinklickte: Warteschlagen im Liveticker – der Journalismus zeigte uns allen eindrücklich, wie unverzichtbar er doch ist. Deshalb trat ich am ersten vermeintlichen Entspannungstag sogleich applaudierend auf meinen Balkon. Mit Tränen in den Augen dachte ich: „Wow! Einfach nur: Wow!“ Gänsehaut. Und hoffte dabei insgeheim, dass mich eine Nachbarin filmt und das Filmchen auf den Sozialen Medien teilt und ich zu einem Betroffenheitscervelatpromi würde – nein, danke!

Okay, so hat es sich nur halbwegs zugetragen, aber man muss sich schliesslich beschäftigen, wenn man so lange mit jemandem in eine Wohnung verbannt worden ist, den man sich selbst nicht ausgesucht hat – sprich ich mich selbst.

Die Decke ist mir bereits mehrere Male, allerdings weitgehend schadlos, auf den Kopf gefallen. Um diesen wächst aber an machen Tagen, so habe ich den Eindruck, ein mentales Plexiglas.

Aber was erzähle ich da wieder? Entschuldigen Sie mich abermals.

In diesem Augenblick sitze ich noch immer im Dählhölzliwald auf einer städtischen Bank. Hmm. Ist das nicht eigentlich zutiefst zynisch? Auf totem Holz, umringt von lebendem, zu sitzen? Ach, diese Gedanken immer! Sind wie Viren, die wird man nirgends los. So wie mich die an mir vorbeijoggenden Selbstoptimierungsfetischisten anschauen, muss ich momentan wohl über einen zerknirschten Gesichtsausdruck verfügen, der an eine Zwangsschliessung erinnert.

Und das alles, während ich mein Notizbuch mit Zeichen fülle – wahrscheinlich sind es Buchstaben. Aber ich bin ja kein Experte, ich kann das ja nicht beurteilen.

„Was willst du mit diesen Zeilen eigentlich erreichen?“ fragt plötzlich ein Eichhörnchen, von einem Ast über mir hängend. „Ich weiss es nicht so genau, vielleicht leiste ich damit etwas Überbrückungshilfe?“ Was ich denn überbrücken wolle, erkundigt es sich. Ich muss länger überlegen und meine dann leise beschämt: „Vielleicht mich selbst?“ Was das nun heissen mag, fragt mich das Tierchen. „Weiss ich nicht …“, antworte ich beschämter. Es entschwindet köpfchenschüttelnd in Richtung Baumkrone. Ja, was wären wir ohne unser Scheitern?

Da fällt mir ein, gestern spielten vor dem Haus zwei Mädchen mit ihren Puppen ‚Spital‘. Kieselsteine sollten gegen das Virus helfen. Als ich die beiden aus dem Fenster fragte: „Seid ihr denn sicher?“, verdrehten sie die Augen und riefen beinahe im Chor: „Hallo?! Es ist ein Spiel!“ Okay, ich akzeptierte auch diese Niederlage.

Mit dieser Erinnerung mache mich jetzt, mit einem Mal besänftigt, auf den Weg nachhause. Vielleicht mache ich mir heute Abend einen Kieselstein-Gratin. Einen Versuch ist es wert. Oder habe ich etwas falsch verstanden?

 

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Zuletzt erschien sein Roman „Erwachen im 21. Jahrhundert“ (Zytglogge, 2018). www.juerghalter.com

Foto: Anastasia Zehnder

2 Kommentare zu „Fernschreiben aus dem Wald (2)“

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