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 Lesedauer: 4 Minuten

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Es sind schleichende Prozesse. Anfangs scheinen die Widerstandskräfte gross. «Das werden wir auch noch schaffen», denkt man. Aber mit der Zeit merken selbst robuste Naturen, dass anhaltende Krisen, etwa eine globale Pandemie, eine erhebliche psychische und soziale Belastungsprobe darstellen: zunächst unmerklich, dann unübersehbar.

Seit Corona kriselt es vermehrt in Ehen. Statistiken belegen regelrechte Scheidungswellen. «Coronascheidung» ist ein neues Wort in unserem Wortschatz. Sogar Beziehungen, die unzerbrechlich schienen, werden brüchig oder lösen sich auf.

Die Midlife-Crisis lässt sich nicht umschiffen, sondern fällt sogar übermässig hart aus, weil die Seele ohnedies ausgezehrt ist, weniger Lichtblicke erlebt. Familien verbeissen sich in Kleinkriege. Und beruflich haben sich für viele die Möglichkeiten und Horizonte eher verengt.

Wenn erst einmal der Boden unter den Füssen wegbricht, wird es schwierig, weiter fest im Leben zu stehen. Wenn Welten zerbrechen, begreift man sich selbst nicht mehr und noch weniger andere.

Spätestens wenn sich depressive Symptome zeigen, vermehrt Ängste auftreten oder das Gedankenkarussell den Schlaf raubt, ist es an der Zeit, professionelle Hilfe zu suchen. In einer solchen Situation befinden sich die Protagonist:innen der Arte-Serie «In Therapie». (Zu finden in der Arte-Mediathek.)

Ausgangspunkt der ersten Staffel der sehenswerten Serie des Regisseurs Mathieu Vadepied ist die Tragödie von Bataclan im Herbst 2015 in Paris. Ein älterer, ungemein erfahrener Therapeut, Philippe Dayan, hat seine Praxis und Wohnung in Hörweite des Ortes des Anschlags. In den Folgetagen kommen Traumatisierte in seine Praxis.

Suche nach Halt im Bodenlosen

Eine Chirurgin hat in der Terrornacht nicht nur pausenlos operiert, sondern auch gemerkt, dass sie in ihren Therapeuten verliebt ist. Sie ist in heftige «Übertragung» geschlittert, wie die Projektion von Gefühlen im Therapeutenjargon genannt wird.

Ein Polizist einer Spezialeinheit, der an der Stürmung des Konzertsaals beteiligt war, leidet seither unter Panikattacken und fürchtet, seinem Beruf nicht mehr gewachsen zu sein. Sogar während der Therapiesitzung will er die Waffe nicht ablegen und lugt prüfend aus dem Fenster, um die (Un-)Sicherheitslage abzuchecken.

Eine junge Leistungsschwimmerin mit zwei eingegipsten Armen gibt Rätsel auf. Hat Sie willentlich einen schweren Unfall provoziert? Ein junges Paar ist nach jahrelangem Bemühen, ein Kind zu bekommen, ins Schlingern geraten. Die Ehefrau ist endlich wieder schwanger, sie weiss auf einmal aber nicht mehr, ob sie das Kind noch haben will – und ihren Mann.

Die zweite Staffel spielt ebenfalls in Paris, und zwar im Frühsommer 2020, also wenige Monate nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Wieder werden in dem altmodisch eingerichteten Behandlungszimmer mit Bücherschrank, offenem Kamin und roter Samtcouch Dramen ausgefochten.

Die Patientinnen und Patienten verwickeln den Therapeuten in psychologische Fechtkämpfe. Mal ist er das verhasste Elternteil, mal der unerreichbare Geliebte, mal typischer Vertreter der ungerechten und krankmachenden Gesellschaft.

Manche Hilfesuchende wollen sich, selbst wenn sie auf der Behandlungscouch liegen, nicht eingestehen, dass sie überhaupt Hilfe suchen und brauchen.

Immer wieder kommt der Punkt, an dem der Therapeut die Frage aufwirft, weshalb ein Patient oder eine Patientin ihn überhaupt aufgesucht habe. Es sind die spannendsten Momente. Sie machen deutlich, dass der Schlüssel in den Hilfesuchenden selbst liegt.

Ganz und vollkommen zuhören

Frédéric Pierrot spielt den schier endlos geduldigen und eindrucksvoll präzisen Therapeuten überaus glaubwürdig. Überzeugend ist er auch in der Offenlegung der Brüchigkeit der Figur des Philippe Dayan. Der Therapeut steckt nämlich selbst in einer Midlife-Crisis, zweifelt an der eigenen Wirksamkeit und findet seine Patient:innen zunehmend geheimnislos («durchschaubar»).

Als Zuschauerin hatte ich genau den gegenteiligen Eindruck: Die Serie bringt die Komplexität und Unterschiedlichkeit des menschlichen Seelenlebens eindrucksvoll zum Ausdruck. Ihr Erfolg kann als Beleg dafür genommen werden, dass nicht nur in Frankreich viele ein krisenhaftes Grundgefühl teilen – und sich daher in den therapiebedürften Figuren wiedererkennen können.

Ich habe die ersten Folgen von «In Therapie» wie in einem Rausch angesehen. Es war fast so, als hätte ich mich zu den Figuren auf die Couch gesetzt und von Dr. Dayan ein wenig mitbehandeln lassen.

Diese hohe Spannung konnte die Serie aber nicht halten. Die immergleiche, kammerspielartige Gegenüberstellung von Therapeut und Patienten im Behandlungszimmer wirkt nach wenigen Folgen monoton.

Wenn ich trotzdem drangeblieben bin, dann, weil mich die Figur des intensiv zuhörenden Menschen auf dem Therapeutensessel fesselt. Für mich hat diese Rolle der vollkommenen Hingabe an das menschliche Gegenüber eine Qualität, die über psychologische Professionalität hinaus ins Religiöse und Spirituelle reicht. So intensiv zuhören zu können, wenigstens für Momente, wäre ein Ziel.

Aber Dr. Dayan ist kein Heiliger. Im eigenen Gefühlslabyrinth ist auch er partiell blind und angewiesen auf einen guten Zuhörer.

Foto: © Les films du poison/Arte. Philippe (Frédéric Pierrot) und Esther (Carole Bouquet).

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