Wo liegen eigentlich die Unterschiede, wenn man Paris oder Rom besucht, die Flughäfen ähnlich aufgebaut sind, wenn auf den Strassen die gleichen Teslas fahren, auf dem Gehsteig dieselben Handyklingeltöne zu hören sind und die Menschen aus den gleichen Starbucks-Becher Kaffee schlürfen, fragt Maurizio Bettini in seinem süffigen Büchlein mit dem Titel: „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“? Die Homogenisierung von Ländern und Kulturen ist heute nicht mehr wegzudiskutieren. Und sie hat zu einer Gegenreaktion geführt:
In den letzten Jahren fand in ganz Europa eine Wiederbelebung der Traditionen statt, oft von populistischen Strömungen und durch Globalisierungsängste zusätzlich alimentiert.
Das eidgenössische Schwing- und Älplerfest erfreut sich beispielsweise zunehmender Beliebtheit, alte Rezepte werden von Blogger wieder entdeckt und neu interpretiert, Dialekte vehement verteidigt. Wir suchen vermehrt nach unseren Wurzeln. Soweit, so gut.
Was meinen wir aber genau, wenn wir von „Wurzeln“ sprechen?
Sind Wurzeln gleichbedeutend mit dem kulturellen Erbe einer Nation oder mit der gemeinsamen Identität einer bestimmten ethnischen Gruppe? Mit diesen Narrativen ist zumindest Vorsicht geboten, denn die Identität ist eine trügerische Begleiterin: Sie gibt uns Orientierung und Halt, grenzt aber gleichzeitig ab.
Sie nährt sich aus unseren nostalgischen Erinnerungen und wird oft romantisiert, sie kann auch nachträglich rekonstruiert werden.
Es gibt unzählige Beispiele für Traditionen, die in Wirklichkeit das Ergebnis rekonstruierter Erinnerung sind: „Der Palio von Siena etwa, ein soziales Event, das von den meisten Zuschauern als Ausdruck einer seit Jahrhunderten unverändert gebliebenen Tradition betrachtet wird, ist in Wahrheit eine komplexe Rekonstruktion. Obwohl es seit dem Mittelalter alle möglichen Pferderennen gab, wurden die älteren zugunsten von jüngeren Formen, insbesondere des 18. Jahrhunderts, eliminiert.“[1]
Die trügerische Nostalgie
Das kollektive Gedächtnis vermischt sich oft mit der persönlichen Nostalgie, diese individuelle Sehnsucht nach bereits Erlebtem. Wir möchten am liebsten, dass alles so bleibt, wie es in unserer Kindheit war. In der Küche meiner Nonna soll es nach Parmigiana und fritierten Auberginen riechen, in der Badeanstalt nach Nivea-Sonnencreme. Die Gefühle von Heimat können spezifische Kombinationen einnehmen. Dies sind unsere ganz persönlichen Wurzeln, daran möchten wir glauben, daran möchten wir uns halten. Die Vergangenheit wird der Ort, wo sich die Identität neu aufstellt und sich nach aussen abgrenzt: „Wir leben in einer (realen) Welt der zunehmenden Homogenisierung und schaffen uns eine (imaginäre) Welt der Differenz“.[2]
Nicht nur die anderen, sondern auch wir haben eine Tradition zu verteidigen. Die kulturellen und politischen Fronten verhärten sich, obwohl es selbst in der Vergangenheit kaum eine eindeutige Identität gab.
Denn wer waren „die Römer“, wenn nicht eine Ansammlung aus unterschiedlichen Ethnien, Kulturen, Lebensformen und Bräuchen?
Vorstellungsbilder
Die Identität als Ergebnis einer Tradition wird sehr oft und nicht nur in der Politik mit der Metapher der „Wurzeln“ dar- und gleichgestellt. Die suggestive Kraft dieses Begriffs ist aber nach Meinung von Maurizio Bettini irreführend.
Tradition wird in die natürliche Ordnung eingegliedert, mit dem Bild der Wurzeln und des Baumes wird die Tradition zu etwas biologisch Ursprünglichem, zu etwas das stützt und nährt.
Die Basis des Baumes wird grundlegend, zum Fundament unserer Kultur, hierarchisch geordnet und für alle vereinnahmend. „Tatsache ist, dass man bei der Suche nach vermeintlichen Wurzeln oder Gipfeln unserer Kultur zwangsläufig auf eine unendliche Kette von Vorläufern stösst, deren erstes Glied sich unmöglich bestimmen lässt.“[3] Aus diesem Grund empfiehlt Maurizio Bettini bei der Argumentation lieber das Bild eines Flusses heranzuziehen. Denn die Metapher des horizontalen Stroms soll auf das Fliessende (anstatt Starre) unserer Kultur in der Geschichte hinweisen, wo weitere Quellen und Bäche sich mit anderen Gewässern vermischen können. Natürlich schaffen die Migration und das Miteinander neuer Kulturen Unbehagen und Konflikte. „Die andere Rhetorik jedoch, die Beschwörung der Wurzeln, ist nicht nur fehl am Platz, sie verhindert auch das Verständnis für die Probleme, die zu lösen sind“.[4]
Vielfalt der Kulturen
Denn keine einzige Kultur, sei sie so differenziert und vielgestaltig, kann für sich alleine den Anspruch erheben, die Fülle und den Reichtum aller Traditionen in sich aufzunehmen.
Können die Märchen der Gebrüder Grimm die Erzählungen aus den Geschichten aus 1001 Nacht inhaltlich ersetzen? Müssen sie das überhaupt?
„Über diese Vielfalt an Lebensformen kann man nur staunen. Man kann aber auch anfangen, bestimmte Aspekte der eigenen Kultur infrage zu stellen, die man als bisher naturgegeben hingenommen hat. Man kann sich von diesen Modellen inspirieren lassen und sie übernehmen, wie es, auch in Italien, mit Religionen, Philosophien und bestimmen fernöstlichen Praktiken geschehen ist. Man kann sie aber auch auf Abstand halten, sobald man sie besser kennengelernt hat.“[5] Auch die kulinarische Verwurzelung ist nicht frei von Widersprüchen. Die Aubergine sei schliesslich im Mittelalter von den Arabern nach Europa gebracht worden, ursprünglich aus Indien stammend. Sie wurde von den Juden Süditaliens und der Iberischen Halbinsel als Arme-Leute-Gemüse übernommen und ist heute kaum von der italienischen Küche wegzudenken. Oder nicht, Nonna?
[1] „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“, Maurizio Bettini, S. 63.
[2] „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“, Maurizio Bettini, S. 11.
[3] „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“, Maurizio Bettini, S. 37.
[4] „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“, Maurizio Bettini, S. 89.
[5] „Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität“, Maurizio Bettini, S. 93.