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Die Emanzipation von damals ist der Sexismus von heute

Wenn Turnerinnen auf Reck und Stange ihre Kunststücke ausführen, tun sie das üblicherweise in knappen Outfits. Die Kleidungsstücke erinnern an Badekleidung oder Trikots aus dem Ballett – und galten lange Zeit als elegant. Am Mittwoch bei den Europameisterschaften in Basel brach die deutsche Kunstturnerin Sarah Voss mit der seit rund hundert Jahren geltenden Kleiderregel. Sie trug einen enganliegenden schwarzen Ganzkörperanzug mit roten Streifen und Glitzersteinen – und löste international Schlagzeilen aus.

Sarah Voss ist die erste Athletin, die an einem Wettkampf in Europa im langen Dress antrat. Die 21-jährige Turnerin gab an, ihren Körper nicht länger in sexualisierter Weise zur Schau stellen zu wollen.

Sie begründete ihre Kleiderwahl gegenüber dem deutschen Turnerbund so: «Grund dafür war vor allem, dass wir uns damit nicht wohlgefühlt haben. Wir kommen in die Pubertät und haben nicht mehr diese kindlichen Körper. Kurven kommen dazu, die Periode kommt dazu, das sind nicht wirklich Faktoren, die es einem leicht machen, in knapper Kleidung zu turnen.» Die Athletin ist nicht alleine, andere Leistungssportlerinnen empfinden ebenso und sind froh über Voss’ Vorstoss.

Frauen haben die Hosen an

Seit 2013 erlaubt das Reglement Turnerinnen, Anzüge zu tragen, sofern Dress und Hose farblich zusammenpassen und die Hosenbeine bis zu den Knöcheln reichen. Die Ganzkörperanzüge erinnern nicht nur an Burkinis, also die muslimische Strandmode, sondern sie wurden tatsächlich eingeführt, um muslimische Sportlerinnen nicht von Turnieren auszuschliessen. Auch Burkinis haben lange Ärmel und Beinkleider, allerdings wird das Outfit zusätzlich durch ein Kopftuchteil aus demselben Stoff komplettiert.

Vor einigen Jahren sorgte ein Burkini-Verbot an französischen Stränden weltweit für Schlagzeilen. Burkini-Trägerinnen sollen sogar mit Polizeigewalt gedrängt worden sein, die Anzüge auszuziehen. Emanzipation wurde sozusagen erzwungen.

Französische Burkini-Gegner*innen sahen durch die körperverhüllende Bademode die «guten Sitten» an Stränden und die «Trennung von Kirche und Staat» gefährdet, den Laizismus.

Den Hintergrund der Zuspitzung rund um Stoffstücke bildete das angespannte Klima nach islamistischen Terrorattacken in Frankreich, insbesondere dem Lastwagenanschlag von Nizza. Die muslimischen Badekleider werden von Burkini-Gegnern als religiöse Symbole angesehen und als Ausdruck aggressiver Islamisierung. 2016 aber entschied Frankreichs Oberstes Verwaltungsgericht, dass Ganzköperbadeanzüge an Stränden getragen werden dürfen.

Rückwärtssalto

Für die körperverhüllende neue Mode im Turnsport gibt es im Gegensatz dazu breite Sympathie und viel Verständnis. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass Sportlerinnen für Höchstleistungen und nicht für feminine Rundungen Ehrungen und Applaus erhalten möchten; dass sie keine Lust darauf haben, die Funkenmariechen aus dem Karneval mit ihrer Hau-Ruck-Erotik zu mimen; und dass bei den Bewegungen, die sie vollziehen, mehr Stoff auch mehr Wohl- und Sicherheitsgefühl mit sich bringt. Knappe Teile verrutschen leicht, deswegen müssen sie mit Klebespray am Körper fixiert werden.

Vielleicht zeichnet sich hier tatsächlich ein Paradigmenwechsel ab. Das Fallenlassen von Hüllen wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Zeichen von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Emanzipation gesehen. Das ging bis zur Oben-ohne-Mode, der Entblössung der Brüste. In derselben emanzipierten Kultur und Gesellschaft erleben wir nun eine Art Rückwärtssalto:

Die Emanzipation von damals ist der Sexismus von heute.

Wenn lang und züchtig statt kurz und knapp die neue Modewelle und die zeitgemässe Form der Emanzipation ist, so kann das nicht ohne Effekt auf unsere Sicht auf islamische Frauen bleiben. Auf jeden Fall entfällt das Argument, dass Verhüllung per se Ausdruck von Unfreiheit und Zwang sei.

Ambivalente Freiheit

Der Sport gilt als unverdächtiger, unideologischer Ort. Interessant, dass sich genau hier, wenn auch unintendiert, eine Annäherung der Kulturen anbahnt: indem die Polarisierung, die durch Entblössung als Zeichen der Emanzipation entstanden ist, verkleinert wird.

Vielleicht öffnet sich auch Raum für eine neue Bescheidenheit und Horizontalität der Kulturen, die die Entblössung der Frauen nicht mitgemacht haben. Bei aller Eurozentrismuskritik wird im Westen gerade auf die muslimische Kultur doch noch häufig mit Überlegenheitsgefühlen geblickt.

Die überwiegend umarmenden Reaktionen auf die gegen «Sexualisierung» gerichteten Zeichen der Turnerinnen vermitteln den Eindruck, als sei auf einen derartigen Anlass regelrecht gewartet worden, als würde aufgeatmet.

Die auf Entblössung aufbauende Freiheit war insofern ambivalent, als sie auch in einer Komplizenschaft mit dem männlichen Blick und Begehren stand und zulasten der weniger attraktiven Frauen ging.

Wenn diese Form der Befreiung durchgespielt ist und keine männliche Autorität mehr etwas verordnet oder verbietet, kann vielleicht ein Schritt in Richtung einer wahren Emanzipation gemacht werden: einer Form von Emanzipation, bei der wir Frauen uns von Normen absetzen, an die wir qua Anpassung oder qua Befreiung gebunden waren – und wir uns vielleicht mehr als zuvor wirklich danach richten können, was wir selbst fühlen und worin wir uns wohlfühlen, egal ob kurz, lang, mini oder maxi.

Photo by Alex Shaw on Unsplash

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