«Ein gutes neues Jahr» öffnet einen Möglichkeitshorizont. Die Fantasie wird angeregt. Was könnte ich erleben? Welche Dinge könnte ich zum ersten Mal ausprobieren? Ich könnte laufen gehen. Ich könnte Zucker weglassen. Weniger arbeiten, mir mehr Zeit für die wichtigen Menschen in meinem Leben nehmen. Ich könnte meinen Job wechseln. Mich in einem Verein engagieren oder endlich mein Engagement aufgeben. Um irgend etwas anderes zu tun. Oder auch nicht.
Das «neue Jahr» sagt dir: Vieles ist möglich! Manches kann ganz anders werden. Du bist frei.
«Gut gestartet?» holt einen auf den Boden der Realität zurück. Wahrscheinlich ersetzt diese Frage meistens eine der übrigen Standardfloskeln, mit denen man sich begrüsst. Oft bedeutet es nicht mehr als «Wie geht’s?». Aber weil man Anfang Jahr noch ein bisschen in diesem Fantasie-Zwischenraum wohnt, hört man es anders: «Und, was hast du aus dieser neuen Chance gemacht? Bist du gut unterwegs? Hast du die Weichen richtig gestellt?»
Wir begegnen uns selbst
Und klar, meistens haben wir das nicht. Auch im neuen Jahr begegnen wir uns selbst, sind, wer wir sind. Haben keine Lust aufs Laufen, mögen Zucker immer noch gerne und nach den paar freien Tagen wartet ein Haufen Arbeit auf uns, der zwar durch den Kalender zurückgehalten werden konnte, sich aber nicht selbst abbaut.
Das neue Jahr wird dann zu einem überschätzten, zufälligen Kalenderereignis, das mit uns selbst genau so wenig zu tun hat, wie wir es vermocht haben unsere Leben nach der Kraft der Fantasie und weniger nach dem Drängen der Alltagsagenda zu gestalten. Man kann darüber hoffnungslos werden. Aber man muss nicht! Ich selbst habe zum Beispiel meinen Vorsatz einen Monat lang auf Cola Zero zu verzichten nur sieben Tage durchgehalten.
Ich könnte mich nun schlecht fühlen und mich meiner Sucht nach dem schwarzen Gesöff halb selbstmitleidig, halb augenzwinkernd hingeben.
Das war in der Tat mein erster Impuls. Oder ich kann mir sagen, dass sieben Tage immerhin eine ganze Woche sind. Kann mich challengen und herausfinden, ob ich ab morgen eine längere Serie schaffe. Vielleicht acht oder zehn Tage? Und wenn ich das nicht schaffe, habe ich es schon zweimal probiert. Nichts hindert mich, es wieder zu versuchen.
Silvester als Gedenktag
Das Problem mit den guten Vorsätzen für das neue Jahr liegt nicht in den Vorsätzen selbst. Sie sind wirklich gut. Ich scheitere nicht an den Vorsätzen, also den Inhalten selbst. Mein Problem ist die Fiktion der jährlichen Einmaligkeit: Jetzt musst du es schaffen! Sonst wartest du wieder ein ganzes Jahr, bis eine Veränderung möglich ist. Aber weshalb eigentlich?
Könnte nicht jeder Sonntag eine Chance sein, einer kleinen Fantasie eines besseren Lebens nachzuspüren und jede Woche im Jahr ein Zeitraum, indem dieses Ziel oder dieser Wunsch Platz haben darf?
Ich nehme jedenfalls den Jahreswechsel dieses Jahr nicht als verklärten Zeitpunkt mit, in dem ich mein Leben auf den Kopf stellen kann. Silvester ist ein Gedenktag, an den ich mich das ganze Jahr erinnern kann und der mir sagt: «Wenn du magst, darfst du gerade jetzt etwas ändern, was dir Freude macht.» Der «Zauber des Dazwischen» hat kein Ablaufdatum. Ich muss mich nur erinnern.
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