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Der Wille zu glauben

James ist ein Meisterdenker am Ende des langen 19. Jahrhunderts. Er gilt als Begründer der Psychologie in den USA und als Mitbegründer des philosophischen Pragmatismus. In seinem berühmten Essay „The Will to Believe“ setzt er sich auf originelle Weise mit dem Phänomen des Glaubens auseinander. Das bleibt bis heute inspirierend.

Eine echte Wahl

Kann man sich entscheiden zu glauben? Ist der Glaube ein Willensentscheid? Und hat man in dieser Frage die Wahl? Selbstverständlich ist das nicht. James präzisiert deshalb zunächst, um welche Art von Wahl es ihm geht: Eine echte Wahl (genuine option). Als solche muss sie drei Kriterien erfüllen:

  1. Sie ist eine „lebendige Wahl“, d.h. sie erfolgt zwischen lebendigen Hypothesen. Lebendige Hypothesen sind Alternativen, die sich uns im Alltag oder in der Beschäftigung mit einer Frage als Möglichkeiten anbieten. Von den meisten Alternativen wissen wir gar nicht, weshalb sie in unserem Leben nie zu Hypothesen werden.
  2. Die Wahl muss zwingend sein, d.h. es muss eine Wahl sein, bei der wir nicht unentschieden bleiben können.
  3. Die Wahl muss bedeutsam sein, d.h. sie legt die Wählerin oder den Wähler beinahe unwiderruflich auf etwas fest.

Zu glauben oder nicht zu glauben muss so definiert werden, dass es sich um eine echte Wahl handelt. Pascals Wette lehnt James von daher ab. Ihm fehlt darin die „innere Seele der Glaubenswirklichkeit“. Die Vorstellung eines mechanisch belohnenden oder strafenden Gottes hingegen sei derart abwegig, dass schon die Hypothese „tot“ sei. Pascal stelle uns folglich gar nicht vor eine echte Wahl. Dennoch könne man aus seinem Gedankenexperiment erkennen, dass es sich in der Frage des Glaubens um eine bedeutsame und zwingende Wahl handle: Sie ist bedeutsam, insofern sie unser Handeln prägt und sie ist zwingend, weil wir uns jederzeit zum richtigen moralischen Handeln entscheiden müssen. (Dass es sich um eine lebendige Hypothese handelt, wenn man sie nicht im pascalschen Sinn pervertiert, scheint James ohnehin vorauszusetzen.)

Ein Bauchentscheid

Nun kann über den Glauben grundsätzlich nicht intellektuell geurteilt werden. Denn Glaube bezieht sich ja geradezu auf das, was wir nicht wissen können. Der Glaube sei eine lebendige Hypothese, zu der sich der Intellekt des Menschen nicht aus eigener Kraft entscheiden könne. Trotzdem muss – weil der Glaube ja als bedeutsame und zwingende Hypothese definiert worden ist – eine Entscheidung getroffen werden.

In Fällen einer echten Wahl, die nicht intellektuell getroffen werden kann, müsse man aus dem Bauch heraus (passional nature) entscheiden.

Anders geht es auch nicht, denn wer nicht entscheiden möchte, trifft ebenfalls einen Entscheid. (1)

Diese Lage ist epistemisch unbefriedigend und existenziell aufwühlend. Man kann sich aber an zwei Maximen orientieren: Glaube der Wahrheit! Vermeide Fehler! Beide Maximen sind unterschiedlicher Art und werden in verschiedenen Problemstellungen angewandt.

In Gerichtsverhandlungen oder in der Wissenschaft versuche man tendenziell stärker Fehler zu vermeiden und keinen Unwahrheiten aufzusitzen. In moralischen Fragen oder im gesellschaftlichen Umgang sind wir allerdings risikobereiter: Wir unterstellen, dass uns jemand mag, dass andere uns nicht anlügen und geben uns einen Vertrauensvorschuss. James sieht den Glauben wegen seiner handlungsleitenden Wirkung phänomenologisch in der Nähe moralischer Fragen. Wenn nun also Glaubensfragen einzig unter der Maxime der Fehlervermeidung in den Blick kommen, ist das eine mindestens untypische Verwendung.

Eine Hypothese

Aber worin besteht denn die „religiöse Hypothese“, die anders als Pascals Automaten-Gott eine lebendige Hypothese sein soll? Sie besteht aus zwei Teilen: Erstens, es gibt etwas Vollkommenes, das ewig ist und zweitens, wir sind besser bedient, wenn wir das glauben. James setzt voraus, dass diese Hypothese „lebendig“ ist. Sie ist bedeutsam, weil der Glaube an sie unser Handeln und Denken prägt, so dass der Gläubige unmittelbar von der Annahme dieser Hypothese profitiert. Weiter ist sie zwingend, denn wir verlieren ihre positive Wirkung nicht nur, wenn wir den Glauben an eine ewige Vollkommenheit ablehnen, sondern auch wenn wir unentschieden bleiben.

Den skeptischen Standpunkt, der den Fehler mehr fürchtet als er die Wahrheit sucht, lehnt James in dieser Frage ab. Es sei nicht einsehbar, weshalb es besser sei, aus Angst anstatt aus Hoffnung in eine Falle zu laufen. In wissenschaftlichen Fragen sei diese Maxime geboten. Aber in Glaubensfragen sei sie nicht nützlich.

Wenn man in Glaubensfragen eine echte Wahl habe, sei es durchaus rational, sich für den Glauben zu entscheiden.

Das Essay endet mit einem Zitat von F.J. Stephen, das vermuten lässt, dass die argumentative Kraft dieses Gedankengangs nicht in der logischen Form, sondern in der performativen Kraft eines heroischen Menschenbilds liegt:

„Wir stehen auf einem Gebirgspass mitten in Schneegewirbel und dichtem Nebel, durch den hindurch wir dann und wann einen Blick erhaschen auf Pfade, die vielleicht trügerisch sind. Bleiben wir stehen, so erfrieren wir; nehmen wir den falschen Weg, so werden wir zerschmettert. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob es überhaupt einen richtigen Weg gibt. Was sollen wir tun? Sei stark und guten Mutes. Tu das Beste, hoffe auf das Beste und nimm es, wie es kommt. Wenn der Tod alles beendet, so können wir dem Tod nicht besser begegnen.“ (2)

Lebendige Hypothese?

Mehr als 120 Jahre später hat sich die lebensweltliche und mentale Umgebung, in der wir über Glaube nachdenken, verändert. Der Glaube – mindestens in einer christlichen Ausprägung – ist für viele Menschen nicht mehr eine lebendige Option. Und wir hätten es schwer, eine allumfassende, für uns gültige Hypothese zu formulieren. Es gibt Christentümer und es gibt viele lebendige religiöse Hypothesen, aber ihr Lebensraum ist kleiner geworden. Sie wirken im Rahmen bestimmter Milieus, Gesellschaften oder Wahlverwandtschaften.

Gleichzeitig hat genau dieser Pluralismus eine verunsichernde Wirkung: Wie kann ich an „meinen“ Gott glauben, mein Weltbild für richtig halten, wenn ich doch weiss, dass Götter und Weltbilder sich von ihrem Selbstanspruch her nicht mit einer partikularen Geltung zufrieden geben können? Religiöse Hypothesen gehen ein, wenn ihr Gehege so klein wird, dass es für ihre Anhänger*innen spürbar wird. Grosse Transzendenzen brauchen viel Auslauf. Die meisten religiösen Hypothesen zielen heutzutage nicht mehr auf Letztes, Absolutes oder Umfassendes, sondern helfen uns Lebbarkeiten, Integration und Ganzheitliches zu spüren und anzunehmen.

Für die meisten Menschen sind „religiöse Hypothesen“ nicht bedeutsam. Religion spielt weniger im Denken oder im Für-Wahr-Halten eine Rolle, sondern eher in der gelebten Praxis: Spiritualität, Meditation, Achtsamkeit. Sie legen uns nicht unwiderruflich auf etwas fest, sondern sind Angebote, die wir ausprobieren können.

Angesichts des unübersichtlich grossen Angebots religiöser und spiritueller Hypothesen, begegnen sie uns nicht als zwingende Wahl. Natürlich stimmt es: Was ich wähle, prägt, wer ich sein werde. Aber würden wir das noch als Wahl beschreiben können?

Ich selbst denke mich jedenfalls nicht als Menschen, der seinen christlichen Glauben, seine Jenseitshoffnung oder sein Gottesbild einfach gewählt hat.

Ich bin in diesen Glauben hineingewachsen, verstrickt worden, weil ich unter Menschen aufgewachsen bin, die diesen Glauben haben und weitergeben. Ein anderes Elternhaus, eine andere Grossmutter, eine andere Kirchgemeinde und ich wäre vielleicht religiös komplett gleichgültig. Oder Buddhist. Oder Atheist.

Und jetzt?

Für die meisten Menschen ist Glaube keine echte Entscheidung. Man kann das bedauern und eine Geschichte des Niedergangs des Christentums in westlichen Gesellschaften erzählen. Oder man kann es schlicht als eine Fortsetzung derjenigen Freiheitsgeschichte zu begreifen versuchen, die unsere Gesellschaften bis heute prägt: Die Eigenständigkeit der Gottesbeziehung individueller Menschen gegenüber göttlichen Gesetzen, die Unmittelbarkeit des Verhältnisses in dem jeder einzelne Mensch vor Gott steht, die dienende Unterordnung kirchlicher Institution gegenüber den einzelnen Menschen, die dogmatische Einsicht in den Gabe-Charakter des Glaubens und schliesslich die Idee von Gott, der nicht unserer Gebete bedarf und des Menschen, dessen ganzes Leben durch die Lebendigkeit seiner Individualität Gottesdienst sein kann.

Freilich, dieses Christentum lässt sich nicht direkt moralisch umsetzen.

Das Gesetz ist für den Menschen da. Nicht umgekehrt.

Es sagt uns nicht, ob Schwangerschaftsabbruch erlaubt und Ehe die richtige Lebensform ist. Diese Themen, die es Jahrhunderte lang mitgetragen hat, sind in der zivilen Gestalt der Menschenrechte und des Rechtsstaates aufgegangen. Es steht jetzt jenseits dieser Fragen. Von dort aus vermag es uns zu inspirieren. Es hilft uns, das Leben als Geschenk zu begreifen. Den Mitmenschen als Nächsten. Die Welt als Geschöpf. Von dort aus vermag es uns zu motivieren. Es hilft uns auch gegen den Augenschein zu behaupten, dass es Würde gibt. Dass wir einander nicht Wölfe sind. Dass sich Gemeinschaft lohnt.

Dieses Christentum jenseits von Hypothesen und Kalkül muss sich nicht von anderen Menschen und ihren Wahrheiten schützen. In ihm ertragen wir die Differenz. In ihm sind wir zuversichtlich und hoffen für alle Menschen das Beste. In diesem Christentum halten wir dem Leben stand. Hoffentlich. Bis die Liebe gewinnt.

 

Bild: Yugiz, Public domain, via Wikimedia Commons

 

Quellen

(1) „Our passional nature not only lawfully may, but must, decide an option between propositions, whenever it is a genuine option that cannot by its nature be decided on intellectual grounds; for to say, under such circumstances, ‚Do not decide, but leave the question open,‘ is itself a passional decision,—just like deciding yes or no,—and is attended with the same risk of losing the truth.“ (The Will to Believe, 11.)

(2) The Will to Believe, 31: „We stand on a mountain pass in the midst of whirling snow and blinding mist, through which we get glimpses now and then of paths which may be deceptive. If we stand still we shall be frozen to death. If we take the wrong road we shall be dashed to pieces. We do not certainly know whether there is any right one. What must we do? ‚Be strong and of a good courage.‘ Act for the best, hope for the best, and take what comes…. If death ends all, we cannot meet death better.“ (Fitz James, Stephen: Liberty, Equality, Fraternity, p. 353, 2d edition. London, 1874.)

 

3 Kommentare zu „Der Wille zu glauben“

  1. Jürgen Friedrich

    Diese Fülle an Ungereimtheit verdient einen Reim zum Ausgleich… oder zur Ergänzung, dass das, was wir zu wissen glauben, auch nicht das „Gelbe vom Ei“ ist :

    Unterm Strich sind Theologen
    Lügner, die – hier ungelogen – logen, bis sich alle Balken bogen,
    womit sie Gott + Welt betrogen.

  2. Ist es nicht spannend, wie der Mitbegründer der Psychologie, William James, der ja auch Amerikaner war, das Thema Glauben eher pragmatisch als dogmatisch angeht? Ihm geht es offenbar mehr um die Wirkung auf den Glaubenden als um die Inhalte des Geglaubten. Letztere hatten in vergangenen Zeiten offenbar die vermutlich ehrlich angestrebte Wirkung, dem Gläubigen eine Sicherheit, genannt „Glaubensgewissheit“ zu vermitteln. Dieser – modern marketingtechnisch gesprochen – „Gläubiger-Nutzen“ fällt aber in sich zusammen, wenn überlieferte Glaubensgewissheiten sich als nicht mehr glaubhaft erweisen.

    William James offeriert einen Glaubensbegriff gleichsam auf einer Meta-Ebene, der eine begründbare Entscheidung impliziert: Ich entscheide mich dafür, dass ich etwas Gutes, das ich noch nicht kenne und auch noch nicht zu kennen brauche, zumindest für möglich halte. Genau das macht mir Mut und lässt mich weitergehen, wie es die Geschichte der Bergwanderer im Schneegestöber so schön illustriert. Halte ich Gutes nämlich gar nicht erst für möglich, werde ich auch nichts tun, um der Möglichkeit eine Chance zu geben. Etwas für unmöglich halten verunmöglicht. Und umgekehrt: Wir ermöglichen etwas dadurch, dass wir es für möglich halten. Das Flugzeug konnte nur erdacht und gebaut werden, weil es Menschen gab, die es für möglich gehalten hatten. Ein so verstandener Glaube bejaht Möglichkeit, aber eine völlige Sicherheit gibt es dabei nicht.

    Nun frage ich mich allerdings, ob ein solcher, als psychologischer Mutmacher konzipierter Glaubensbegriff, der von theologisch gefertigten, sich auf zu glaubender Offenbarung berufenden Glaubensbekenntnissen absieht, nicht eher das beschreibt, was in der christlichen Tradition „Hoffnung“ (griechisch elpis) genannt wird, der dritten in der Schwestern-Triade Glaube, Liebe und Hoffnung. Und wofür steht dann „Glaube“? Befinden wir uns jetzt wieder in einem brüchig gewordenen Glaubensgebäude mit Einsturzgefahr? Keineswegs, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass das ursprüngliche griechische Wort für Glaube, pistis, das noch sprachlich richtig in das stammverwandte, lateinische fides übersetzt wurde, keine Glaubensinhalte sondern einen seelischen Zustand bezeichnet, der ziemlich genau dem entspricht, was heutige Psychologen Urvertrauen nennen. Die Umwandlung von fides (ein gefühlter, subjektiver Zustand) in ein Credo (ein System von gedachten Objekten mit Wahrheitsanspruch) erfolgte erst später.

    Urvertrauen gilt dem, was auf uns zukommt (lateinisch adventus). Es erlaubt uns, allem gelassen entgegen zu sehen, auch wenn wir nicht wissen und keinen Einfluss darauf nehmen können, was es sein wird. Hoffnung gilt dem, was wir uns vornehmen (lateinisch futurum). Sie ermutigt uns, voranzuschreiten, auch wenn wir noch nicht wissen, was dabei herauskommen und was unterwegs auf uns zukommen wird. Brauchen wir nicht beides: Ur-Hoffnung, die uns ins Handeln bringt, und Ur-Vertrauen, das uns ins Loslassen bringt?

    1. …ich finde ihren Kommentar wunderschön und informativ…
      …die Differenzierung von Glaube zu Hoffnung verständlich beschrieben- DANKESCHÖN… :-)…

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