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 Lesedauer: 7 Minuten

7 biblische Anleihen im Netflix-Horrorthriller “The Platform” – und was sie für den Film bedeuten

Achtung Spoiler: Der Artikel verrät Details des Films.

Dante nannte es “Inferno”, im Film “The Platform” heisst es nüchtern “Vertical Self-Management Center”. Oder kurz: “der Schacht”. Ein tiefes Loch – oder ein hoher Turm, man weiss es nicht genau – mit vielen Stockwerken, in deren Mitte sich am Boden jeweils eine Öffnung befindet, sodass man gegen unten und oben scheinbar unendlich weit in den Schacht blickt. Die Stockwerke sehen aus wie Gefängniszellen, und in jeder dieser Zellen sind zwei Menschen untergebracht.

Jeden Monat wird neu gemischt: Die Menschen wachen auf einem anderen Stockwerk auf. Wo, ist entscheidend, denn einmal pro Tag senkt sich eine Plafform durch den Schacht und bleibt auf jedem Stock einige Minuten stehen. Die Plattform ist ein gedeckter Tisch, mit Torten, Obst, Fleisch, Wein, Pfannkuchen, Paella. Je weiter sie nach unten kommt, desto chaotischer und leerer wird sie.

Groteske Variation von “Hansjakobli und Babettli”

Eigentlich hat es genug Essen für alle im Schacht und die Lösung scheint naheliegend: Mass halten. Doch wer oben ist, hat vorher gehungert oder befürchtet, im nächsten Monat ganz weit unten zu sein und nichts zu essen zu kriegen. Eine groteske Variation von Mani Matters „Hansjakobli und Babettli“: Diejenigen oben schlingen herunter, so viel sie können. Und wenn kein Essen mehr auf der Plattform ist, werden die Menschen zu Kannibalen.

Die Nahaufnahmen während des Essens und die ekelerregenden Geräusche erinnern an “La grande bouffe”, der wegen Sex und Fäkalien in den 70er-Jahren Aufruhr erregte und in einigen Ländern sogar verboten wurde. Obwohl auch diese Elemente in “The Platform” vorkommen, gibt es hier neben dem grossen Fressen vor allem Blut und Gewalt. Der Film ist auf Netflix erst ab 18 freigegeben.

Einiges wurde schon über “The Platform” als Sinnbild für den Kapitalismus, für den Kampf ums Überleben und die ungleiche Verteilung von Gütern geschrieben. Der Film beschreibt ein Experiment mit menschlichen Versuchsobjekten, das scheinbar endlos weiterläuft. Doch neben den wirtschaftlichen und gesellschaftskritischen enthält der Film auch viele religiöse Anleihen. Im Folgenden eine Liste – und am Schluss die Frage, was der Film möglicherweise damit sagt.

1. Jeder ist ein Sünder

John Rawls’ “Schleier des Nichtwissens” klingt in “The Platform” deutlich an: Das Gedankenexperiment, in dem man eine Gesellschaftsordnung herstellen soll, die dadurch so gerecht wie möglich wird, dass man selber nicht weiss, an welcher Position man sich selber darin befinden wird. Doch im Schacht funktioniert Solidarität nicht. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Auch der Protagonist Goreng bricht seine hehren Vorsätze – oder der Schacht bricht ihn. Als es ums Lebendige geht, knickt auch er ein und wird zum Täter, zum Kannibalen, zum Mörder. “Alle haben gesündigt“, schreibt der Apostel Paulus. Eine pessimistische Sicht auf den Menschen, die aber dadurch, dass sie realistisch ist, auch ein starkes Moment der Befreiung enthält.

2. “Liebe deinen Nächsten”

Trotz der hoffnungslosen und Grundstimmung ist Gerechtigkeit als höchstes Ideal im Schacht nicht völlig ausgelöscht. Nach dem Tod seines ersten Zellengenossen wird Goreng mit einer Frau zusammengetan, die früher für die Verwaltung des Sozialexperiments gearbeitet hat und sich nun freiwillig einsperren liess. Sie ist todkrank und will den Rest ihres Lebens dafür einsetzen, im Schacht Solidarität zu propagieren. Nachdem das nur mässig funktioniert, steigt Goreng schliesslich auf die Plattform, um auf jedem Stockwerk nur so viel Essen zu verteilen wie nötig, damit es bis ganz unten reicht.

3. Von Tag zu Tag leben

Ein biblisches Prinzip: Leben im Vertrauen darauf, dass Gott für einen sorgt. “Unser täglich Brot gib uns heute”, heisst es im Vater Unser, und Jesus sagt in der Bergpredigt: “Sorgt euch also nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? (…) Der morgige Tag wird für sich selber sorgen.” Anschaulich dargestellt wird das Prinzip im Alten Testament, bei den Israeliten in der Wüste: Das Manna, das Brot vom Himmel, verdarb und wurde voller Würmer, wenn jemand davon etwas für den nächsten Tag aufbewahrte.

Auch im Schacht gilt: Man darf nichts behalten, wenn die Essenszeit vorbei ist. Wer diese Regel bricht, erfährt die Strafe am eigenen Leib. Denn die Plattform kommt zuverlässig jeden Tag wieder. Das Zynische daran: Wer heute hungern musste, wird morgen ebenso zuverlässig vor einer leeren Plattform sitzen.

4. Verzweiflungsschrei zum Himmel

Gott gibt es im Schacht nicht. Es gibt zwar die Verwaltung, aber die hat kein Gewissen. Bindeglied zwischen ihr und dem Schacht ist die Küche auf Ebene Null. Dort läuft alles sehr professionell ab: Haute Cuisine wird hier zubereitet, und ein Violinist spielt, während die Köstlichkeiten angerichtet werden. Patzt ein Koch, wird er vom Küchenchef bestraft. Höchste Qualität, die schon nach wenigen Stockwerken unappetitlich aussieht.

Ein Hilfeschrei zum Himmel, wie er etwa in den Psalmen häufig vorkommt, scheint nutzlos: “Du kannst zwar nach unten scheissen, aber nicht nach oben”, lernt Goreng. Schliesslich wird er auf die Idee gebracht, eine Botschaft mitzusenden, wenn die Plattform am Ende des Tages nach oben rast. Das Symbol ist eine Delikatesse, die unangetastet, verweigert, aus dem Schacht zurückkehrt.

5. Die Eingebung kommt im Traum

Schliesslich ist die Botschaft aber trotzdem etwas anderes, und die Idee dazu wird Goreng im Traum übermittelt. Träume: Ebenfalls ein biblisches Motiv, man denke an den Engel, der Josef im Schlaf befiehlt, mit Maria und dem Jesuskind vor Herodes zu flüchten. Oder den anderen Josef, den im Alten Testament, der die Träume des Pharaos deutet und so ein Volk vor der Hungersnot rettet.

6. Ein rettendes Kind?

Bald schon hört Goreng das Gerücht, dass eine Frau im Schacht ihr Kind suche. Ein Kind in diesem Gefängnis? Kann das sein? Als er es schliesslich selber trifft, wird das Kind zum Hoffnungsträger. Ein zerbrechliches Wesen, unschuldig und wertvoller als alles andere in dieser Hölle. Wo das Kind ist, sind sogar die Gesetze des Schachts teilweise ausser Kraft. Es ist eine Messiasfigur. Doch das Entscheidende ist, dass das Kind nicht, wie in der Bibel, von oben kommt, sondern nach oben fährt: als Botschaft an die Köch*innen, als Aufruf an ihr Gewissen.

Als das Kind am Ende auf dem Tisch hochfährt, wirkt es wie eine Opfergabe. Hilflos, zerbrechlich und auf Mitgefühl angewiesen. Goreng bleibt unten: „Die Botschaft benötigt keinen Überbringer“, lernt er. Er hat sich um das Kind gekümmert, solange es bei ihm war. Nun muss er es loslassen – wie die Botschaft (das Opfer? das Evangelium?) aufgenommen wird, liegt nicht mehr in seiner Hand.

7. Der Held gibt sein Leben

Obwohl er die Aussicht hat, in einem Monat aus dem Schacht entlassen zu werden, zieht Goreng den Plan durch. Er opfert sein Leben – und auch seine Moral. Um die Botschaft zu übermitteln, wird er selber zum Gewalttäter, ja zum Mörder. Ähnlich wie Simson im biblischen Buch Richter. Ein Antiheld, der am Schluss ganz unten ankommt, aber durch den Einsatz für das Gute seine Würde wiedergewinnt.

Blutiger Horror oder intelligentes Onlinekino?

“The Platform”, ein Film des spanischen Regisseurs von Galder Gaztelu-Urrutia, wurde international beachtet. Denn trotz der Brutalität ist es mehr als ein Horrorfilm: Die Dialoge sind interessant, die Idee sozialkritisch und die visuelle Gestaltung intelligent.

Richtig packend wird “The Platform” aber dort, wo Glaube, Hoffnung und Liebe durchschimmern. Die drei christlichen Tugenden unterlaufen den Nihilismus, der im Schacht herrscht. Doch sie sind ambivalent, denn im Dienste des Rettungsplans werden sie von Gewalt begleitet. Das geht unter die Haut. Und das Ende? Kann das Kind die Menschen retten? In der Bibel wird die Frage beantwortet. Im Film bleibt sie offen.

The Platform Auf Netflix

Bild: Netflix

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