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Wie können wir gut zusammenleben?

Das 11. TheoLab widmete sich Fragen christlicher Ethik in urbanen Ballungsräumen. Experten aus unterschiedlichen Disziplinen trafen sich in der St.-Matthäus-Kirche in Berlin, um über Möglichkeiten des guten Zusammenlebens in sozial, kulturell und religiös heterogenen und zunehmend spannungsgeladenen Gesellschaften zu diskutieren. Die Tagung stand unter dem Eindruck der Meldungen über den blutigen Anschlag von Hanau in der Nacht zuvor, der das Gegenteil sozialer Integration vor Augen führte.

Ein psychisch offenbar schwer gestörter Täter, der Wahnvorstellungen mit rassistischem Hass und Abneigung gegenüber Muslimen verbindet, verbreitet im Internet wirre Theorien und ermordet schliesslich mit (legalen!) Schusswaffen gezielt Menschen mit nicht-deutschem Aussehen. Was sagte es über die soziale Kohäsion einer Gesellschaft aus, wenn Menschen mit extremistischen Ansichten erst auffallen, wenn etwas Schlimmes passiert? Gibt es Möglichkeiten, Rassismus einzudämmen oder müssen wir lernen, damit zu leben?

Eigenlogik der Städte verstehen

Martina Bär, die an der Freien Universität Berlin Systematische Theologie lehrt, machte sich für ein genaueres Hinhören auf die „Eigenlogik von Städten“ stark. Diese Eigenlogik oder Strukturlogik ziehe sich „wie eine Hintergrundmelodie“ durch soziale Räume, wirke auf die Bevölkerung zurück und konkretisiere sich im Denken, Handeln und Fühlen Einzelner. Vereinfacht kann man vielleicht sagen:

Der Charakter oder die Atmosphäre einer Stadt schlagen sich positiv oder negativ auf Individuen nieder und bestimmen ihr Handeln mit.

Was ist christlich-urbane Ethik?

Welche Rolle können Religionen und Kirchen innerhalb des eigenlogischen, aber auch  eigenwilligen und oft chaotischen Stadtorganismus spielen? Die Theologin vertritt die Ansicht, dass „eine christlich-urbane Ethik“ positiv-transformatives Potenzial besitzen kann, ein „urbanes Reich Gottes“ aber nur zu erlangen ist, wenn „Armuts- und Ungleichheitssysteme“ wirksam bekämpft und ausgehebelt werden.

Hannes Langbein teilt mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer („Die Vereindeutigung der Welt“) die Einschätzung, dass vereinfachende Weltbilder und Deutungen auf dem Vormarsch sind. [2] Für den Direktor der Stiftung St. Matthäus besteht eine paradoxe Anforderung darin, dass von Religionen und Kirchen klare Positionierungen und eindeutige Aussagen gefordert werden.

„Nach meiner Auffassung hat Religion aber genau umgekehrt die Funktion der Komplexifizierung.“

Mit der Idee einer urbanen Eigenlogik oder Städten als Akteuren mit eigener Wirkungsmacht knüpft die katholische Theologin an Soziolog*innen wie Martina Löw und Helmuth Berking und deren Ansatz einer „sinnverstehenden Stadtsoziologie“ an. [1] Eine Grundannahme besteht darin, dass Sinnkonstitution wesentlich präreflexiv erfolgt. Vorurteile werden wirksam, noch bevor das bewusste Denken einsetzt. Deswegen muss eine Politik der Inklusion und Solidarität tief und nachhaltig verankert werden.

Mehr Mut zu religiösem Ungehorsam

Der evangelische Theologe und Pfarrer betrachtet Religion, ähnlich wie Kunst, als:

„…Trainingsprogramm für die Einübung in Multiperspektivität. Als Theologen haben wir von Anfang an mit Mehrdeutigkeit zu tun. Die Welt als gefallene Schöpfung arbeitet von Beginn an mit doppeltem Boden. Das gilt auch für biblische Quellen. Wir haben zwei Schöpfungsberichte und vier Evangelien, weswegen wir im Umgang mit Mehrdeutigkeit geschult sein sollten.“

Kirchen könnten und müssten nach Ansicht Langbeins, der St. Matthäus zu einem spirituell und kulturell lebendigen Begegnungsort im Zentrum Berlins gemacht hat, noch weitaus stärker Freiräume sein und zudem Räume des zivilen Ungehorsams. Ziviler Ungehorsam zeige sich eindrucksvoll in den ‚Fridays for Future‘ als Form des Schulstreiks.

„Zivilen Ungehorsam haben wir aber auch in Kirchen. Analog zur Kunstfreiheit kennen wir religiösen Ungehorsam. Dieser zeigt sich beispielsweise im ‚Kirchenasyl‘, wo wir uns haarscharf am Rande des Rechts bewegen.“

Clever geteilte Arbeits- und Lebenswelten

Madeleine Gummer von Mohl ist Mitbegründerin des Betahauses, dem ersten Coworking Space in Berlin. [3] Die Managerin und Kulturwissenschaftlerin berichtete über neue Arbeitswelten, spezifische Bedürfnisse von Laptop-Nomaden und die Philosophie des geteilten Arbeits- und Lebensraums. Das Motto des seit zehn Jahren bestehenden Betahauses lautet: „We create Space. It’s that simple.“

Die Unternehmerin sagte, dass religiöse und spirituelle Fragen im Coworking-Alltag eine erstaunlich grosse Rolle spielen. „Ich habe oft das Gefühl, dass die Leute eigentlich Pastoren brauchen würden. Viele Member und auch Team-Mitglieder legen bei mir die Seele auf den Tisch. Sie wissen in dem ganzen digitalen Wirrwarr oft nicht mehr, wer sie sind. Ich kann alle, die theologisch unterwegs sind, nur dazu ermutigen, die Menschen an die Hand zu nehmen. Die Leute brauchen wirklich Austausch und Hilfe.“

Ihre Aufgabe im Betahaus sieht die Managerin im Vernetzen von Menschen:

„Was wir machen, lässt sich mit Salons früherer Zeiten vergleichen. Manchmal habe ich aber auch das Gefühl, wir machen, was früher Gemeinden gemacht haben.“

Aus Sicht der Coworking-Expertin besteht ein teilweise ungehobener Schatz der Kirchen in den grosszügigen Räumlichkeiten. Sie regte an, diese Räume für diverse Bedürfnisse und Communitys stärker zu öffnen.

Kirche für die Stadt

Zwei Jahre lang nutzte mit dem „Berlinprojekt“ auch ein religiöses Start-up-Unternehmen die Räume im Betahaus. [4] Das Projekt, das regelmässig im Babylon Kino in Mitte und in einer Tanzschule in Berlin-Kreuzberg zu Gottesdiensten einlädt, ist mittlerweile aus dem Coworking-Space ausgezogen, weil es expandiert ist.

Das Theologische Labor (TheoLab) wird seit 2014 zweimal jährlich von der Arbeits- und Forschungsstelle Theologie der Stadt in Berlin gemeinsam mit der Evangelischen Akademie zu wechselnden Themen veranstaltet. Letztes Mal ging es um neue Stadtteile und Möglichkeiten der Kirchen, sich in Planungen frühzeitig einzubringen. Allein in Berlin gibt es derzeit zwölf Stadtneubaugebiete.

Laut dem Projektstudienleiter Alexander Höner besteht das Ziel des TheoLab darin,

„anders nachzudenken darüber, wie Gott in unserem Zusammenleben wirkt und Menschen in offenen und experimentellen Formaten zusammenzubringen, die sonst wahrscheinlich nie zusammenkommen würden.“

 

[1] Helmuth Berking, Martina Löw (Hgg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, (=Interdisziplinäre Stadtforschung), Frankfurt am Main 2008.

[2] Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (=Reclams Universal-Bibliothek), Ditzingen 2018.

[3] https://www.betahaus.com/

[4] https://www.berlinprojekt.com/

2 Kommentare zu „Wie können wir gut zusammenleben?“

  1. Vielen Dank für den spannenden Bericht!
    Eigentlich könnte man gerade auch den Umstand, dass Predigtveranstaltungen die Kirchen meist nicht mehr füllen, nutzen um lebendige Dialoge (z.B. über den Predigttext und zur Predigt) zu führen und vermehrt offene, gemeinsame Reflexionsräume zu schaffen. –
    Eine Horrorvision für PastorInnen, die ihre «Gottesdienste» gerne nach Plan A durchführen? Vielleicht wäre sinnvoll ein neues Predigtformat («neue Predigt»?) zu schaffen, bei dem sich die Erwartungen gleichmässiger auf alle Partizipierenden verteilen und weniger einheitliche Liturgieabläufe vorausgesetzt würden.

    1. Ja, für mehr experimentieren im Gottesdienst bin ich auch, und zwar nach dem Grundsatz „Gottesdienst mit den Menschen“ und nicht ausschließlich „Gottesdienst für die Menschen“ nach einem festen Format. Beide Angebote sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie sollen sich ergänzen. Aber das Experimentelle, Partizipatorische hat Nachholbedarf. Prof. Dr. Thomas Klie von der Uni Rostock hat das mal in einem Vortrag schön auf den Punkt gebracht: „Wir sind von einer Partizipationskirche zu einer Publikumskirche geworden.“

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