Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Wie eine pralle Frucht

Jubelt!

Jubilate heisst der heutige Sonntag. Der Jubel hat viele Gesichter. Tanzende Körper, die sich im Beat der Musik verlieren. Ein gesammelter Körper, der nicht preisgibt, in welche Welt die Leserin entführt wurde. Die synchronisierte Bewegung eines Chores, gleichgestimmt durch ein geistliches Lied oder die Internationale. Das rhythmische Joggen im Wald, gehalten von den Ästen der Bäume und dem Grün der Blätter. Die leuchtenden Augen und geröteten Wangen von Freundinnen und Freunden, die gemeinsam essen und trinken. Jugendliche, deren Körper sich vor Lachen in alle Richtungen auseinanderbiegen. Die innere Bewegung eines Körpers, die beim Musikhören fast unsichtbar nach aussen schwingt. Der lautstarke Jubel einer Masse von Menschen, die gemeinsam ein Ereignis feiern. Und der innere und äussere Jubel über einen Erfolg, den man erreicht hat.

Gemeinsam jubeln

Das Jubeln wird veranstaltet und inszeniert; aber es muss sich auch einstellen. Wenn wir so viel von dem, was uns jubeln lässt, jetzt nicht veranstalten können, ist auch klar, dass es mit dem Jubeln schwierig wird. Alles gemeinsame Jubeln fällt schon mal weg. Ich habe Glück, weil viele meiner Jubelanlässe wie lesen, Musik hören, im Wald spazieren noch möglich sind. Aber ich weiss, dass alle die, die lieber gemeinsam jubeln, das jetzt nicht können. Weil sie von ihrem Jubeln abgeschnitten sind, macht auch mir das eigene Jubeln keinen Spass mehr. Alle müssen jubeln können, sonst jubelt niemand.

«Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.» (Johannes 15,5)

Der Vers stammt aus dem Bibeltext, der dem heutigen Sonntag beigesellt ist. Hier wird das Jubeln mit dem Fruchtbringen ins Bild gesetzt. Ich sehe eine Weinrebe mit prallgefüllten Trauben vor mir. Zum Anbeissen schön. Jubeln als kollektives Fruchtbringen, das gemeinsam zustande bringt, was bewirkt werden will. Jubeln als bekömmliche Kost für andere, die ihrerseits zu jubelnden Früchten werden.

Im luftleeren Raum hängen

Aber heute sieht mich das Bild wie ein Vorwurf an, denn ich fühle mich eher wie Dörrobst.

Ich habe zwar Arbeit, aber wenn ich in das Haus gehe, in dem ich sonst arbeite, treffe ich auf verschlossene Türen, dunkle Räume, verwaiste Büros. Keine Kolleg*innen, keine Veranstaltungen, keine Leute, kein Leben. Ich hänge im luftleeren Raum, und es wird eng. In mir richtet sich ein grosses Fragezeichen auf: Was soll das alles? Wo bringe ich Frucht? Wo bewirke ich etwas? Ohne Miteinander, Präsenz und Resonanzen wird es schwierig. Eben Dörrobst.

Tapfer bleiben

Dabei versuchen wir alle aufrecht zu bleiben. Wir machen weiter und geben unser Bestes; unser Homeoffice-Bestes. Wir halten durch bis es weitergeht. Das muss doch mal gesagt sein:

Wir sind alle tapfer. Das ist gut, aber es zehrt.

Was nachher kommt

Wir warten, dass es weitergeht. Aber das kollektive aus dem Vollen jubeln wird sich erstmal nicht einstellen. Museen, Läden und bald auch wieder Restaurants werden geöffnet. Aber eigentlich sollen wir gar nicht hingehen. Social distancing gilt weiter. Ich sehe sie vor mir, die Läden, Kirchen, Museen und Restaurants – alle zwei Meter ein Mensch mit Mundschutz. Kein schönes Bild. Nicht nur, weil es sich nicht lohnt. Auch, weil es die Vereinzelung betont.

Wie wird sich das Jubeln wiedereinstellen? Woran wird man das Fruchtbringen erkennen?

Auch das, was man nicht sieht, ist da.

Ich denke an all meine Heldinnen und Helden, die mich schon zum Jubeln gebracht haben: all die Autorinnen und Autoren, die Künstler und Künstlerinnen, die Theaterleute und Musikerinnen und Musiker, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Alle die, die mich mit ihrem Fruchtbringen glücklich gemacht und zum Jubeln gebracht haben. Sie haben davon keine Ahnung. Auch nicht davon, wozu sie mich inspiriert haben. Jubeln und Fruchtbringen under cover, aber real.

Sich nähren

Im Bild vom Weinstock und den Reben geht es um die Verbindung zwischen Weinstock und Rebe. Es geht um den Saft, der die Trauben füllt. Es geht um die Ressourcen, an die wir anschliessen. In Dörrobst-Zeiten geht es darum, Quellen zu öffnen, aus denen wir trinken können.

Ich sammle jetzt Geschichten und lasse mir erzählen, wie andere es machen. Aus welchen Quellen sie schöpfen. Und jedes Mal, wenn ein Gesicht dabei zu leuchten anfängt, öffnet sich auch bei mir eine Quelle, aus der ich schlürfen kann.

Was für eine Ressource, wenn wir uns mit fröhlichen Gesichtern und leuchtenden Augen gegenseitigen anstecken. Ein Entgegennehmen und Weitergeben von Jubel; eine Jubel-Staffel. Auch als Erinnerung daran, was bis vor Kurzem alles möglich war und wieder möglich sein wird. Hoffentlich.

 

Photo by Maja Petric on Unsplash

1 Kommentar zu „Wie eine pralle Frucht“

  1. Eine neue Sicht aufs JUBELN für mich, danke dafür !
    Ich jubele über (unerwartete) Post, von Kindern bemalte Steinchen vor der Tür, über jedes Gänseblümchen, über den Regen, über die uralten CDs und die Zeit,die ich jetzt habe sie zu hören und zu genießen und manchmal auch sie auszusortieren. Ob Freude oder Vergnügen immer gleich JUBEL ist? Ich weiß es nicht, aber Ihr Beitrag ermutigt mich, es einfach mal so zu sehen!!!!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage