Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Verdammt schweigsam

Silent Retreats sind angesagt. Im Schwarzwald, in der Toskana, auf dem Mont-Soleil oder per Zoom. Eine Woche oder zehn Tage gemeinsam schweigen. Sich selbst begegnen. Sich ertragen. Aushalten, was an Seelenbildern über die Bewusstseinsschwelle schwappt, wenn einmal nicht permanent geredet, erklärt, erzählt, kommentiert, sich-ausgetauscht, getratscht, geschwätzt oder geschnäderet wird. Zu Beginn von Silent Retreats werden Teilnehmenden häufig Smartphones abgenommen. Es soll auch nicht «getextet» werden. Für viele eine Zusatzherausforderung.

Was aber, wenn das Schweigen weder freiwillig noch zeitlich eingrenzbar ist? Wenn es aus heiterem Himmel als erschreckendes Nicht-mehr-Sprechenkönnen über einen hereinbricht? Wenn man sich nicht in meditative Abgeschiedenheit zurückziehen kann, sondern im Alltag mit eingeschränkter oder fehlender Sprechfähigkeit zurechtkommen muss, tagein, tagaus? So ergeht es über 100 000 Menschen in Deutschland (ohne Dunkelziffer), die nach Schlaganfällen, Hirnblutungen, Kopfverletzungen, Tumoren oder Gehirnentzündungen «Aphasiker» geworden sind. In der Schweiz ereilt jährlich rund 5000 Menschen das harte Schicksal, eine Gesamtschätzung aber gibt es nicht.

Männer und Frauen verlieren vorübergehend oder dauerhaft den Zugriff auf Laute und Worte. Sprechen wird zum Random Play und zur schweisstreibenden Herausforderung, weil Sprachzeichen auf einmal im Kopf durcheinander purzeln und es schwerfällt, richtige Ausdrücke zu erwischen.

Oft ist auch noch die Schreibfähigkeit mitbetroffen («Agraphie»). Entweder wird es unmöglich zu schreiben oder Worte mit mehr als vier oder fünf Buchstaben werden zur Stolperfalle. Viele Betroffene ziehen sich zurück und üben Vermeidungsstrategien.

Aphasie ist eine Sprech-, keine Denkstörung

Fast noch grössere Stolperfallen sind die Unwissenheit und das Unverständnis der Mitwelt. Aphasiker berichten, dass sie oft als komisch oder begriffsstutzig angesehen werden. Mitmenschen wenden sich ab oder sprechen mit ihnen wie mit kleinen Kindern oder Geisteskranken. Dabei ist Aphasie eine Sprech-, keine Denkstörung. Unter der Überschrift «Das Aphasie-Experiment» sind jetzt die Ergebnisse einer Studie in Buchform veröffentlicht worden, bei der zehn bekannte Persönlichkeiten aus der Schweiz freiwillig einen Tag lang auf das Sprechen verzichtet haben.

Unter den Probanden sind der prominente Kabarettist, Schauspieler und Drehbuchautor Beat Schlatter, die Chefärztin der Zürcher Frauenklinik und ein reformierter TV-Pfarrer. Die Initiative ging von der Non-Profit-Organisation aphasie suisse und der Journalistin Babara Lukesch aus.

Angst vor Begegnungen

Bei den Teilnehmer*innen löste das eigentlich kinderleicht klingende Experiment schon im Vorfeld Nervosität aus. Schwierig war es, überhaupt einen geeigneten Tag zu finden und diesen vorzuplanen. Es zeigte sich dann aber, dass Schweigen ohnedies zu unvorhersehbaren Schwierigkeiten führt und Pläne durchkreuzt.

Für Beat Schlatter wurde der Spaziergang durchs vertraute Zürcher Niederdorf zum Spiessrutenlauf. Der Komiker büsste seine übliche Aufgeschlossenheit ein und hatte auf einmal Angst, für komisch gehalten zu werden. Er fürchtete, dass Leute seine Schweigepflicht für einen Witz halten könnten.

Sogar vor seiner Puztfrau floh der Schauspieler an seinem Schweigetag – und rettete sich schliesslich ins Hamam, wo Ruhe ausdrücklich erwünscht ist.

Stephanie von Orelli, Chefärztin der Zürcher Frauenklinik Triemli, wurde überrascht von heftigen Gefühlen der Einsamkeit und der Isolation inmitten der eigenen Familie. Ihr Sohn missverstand ihr Schweigen als Ausdruck von Unfreundlichkeit oder gar Ärger («Hässigkeit»). Dabei fühlte sich die Ärztin an dem Tag eher traurig. Von Orelli kam sich wie ein «Holzklotz» vor und hatte das Gefühl, mangels Sprache ihre Gefühle kaum noch ausdrücken zu können.

Wie ein Sprung vom Zehnerturm

Beim Einkaufsbummel, auf den sie sich eigentlich gefreut hatte, fühlte sie sich unerwartet ausgeliefert und schutzlos. Sie hakte sich bei ihrem Mann ein, doch die gewohnte Intimität wollte sich an dem Tag nicht einstellen. Mit der Tochter aber ergab sich «eine fast komplizenhafte Beziehung». Die Tochter hatte bis zu ihrem achten Lebensjahr nicht gesprochen, wegen Stimmbildungsproblemen war unklar, ob sie es je lernen werde. Aus eigener Leiderfahrung erfasste das Schulkind die emotionale Lage der Mutter intuitiv und umarmte diese mehrmals, was die Mutter als ungemein tröstlich empfand.

Für den ETH-Professor und Unternehmer Anton Gunzinger war der Schweigevorsatz mit Mut verbunden und der sprachlose Tag fühlte sich wie ein «Sprung vom Zehnerturm» an.

Gunzinger fasste den Schweigetag als interessante Übung auf, die kreativen Raum freispielen kann. Mit der explorativen Grundhaltung kam er erstaunlich gut durch den Tag.

Er beschloss, gleich auch noch einen «Früchtetag» einzulegen und das Schweigen mit Fasten zu verbinden. Ein Arbeitsgespräch mittels Zettel-Austausch entpuppte sich als besonders fruchtbar. Statt «hektischem Pingpong mit Worten» ereignete sich eine «wohltuende Verlangsamung des Dialogs».

Pfarrer fühlt sich wie amputiert

Während sich die meisten Probanden vorstellen können, ihren Beruf auch als Aphasiker ausüben zu können, wenn auch in eingeschränkter Form, schliesst der Zolliker Pfarrer Simon Gebs dies aus. Von Pfarrpersonen erwarten Menschen in existenziellen Schwellensituationen eine besondere Sensibilität, auch und gerade sprachlich. Es werden segnende, erlösende, tröstende Worte erhofft.

Gebs’ Schweigetag war gespickt von einer Abfolge von Irritationen und Missverständnissen und löste zusehends schlechtes Gewissen aus. Einem Menschen am Sterbebett ohne Worte gegenüberzutreten, wäre schlicht «unmenschlich», überlegt der Pfarrer und meint, seinen Auftrag zu verfehlen, wenn er nicht spricht.

Dem von der SRFSendung «Wort zum Sonntag» bekannten reformierten Pfarrer Simon Gebs wurde an seinem Schweigetag bewusst, dass es kaum einen sprachlastigeren Beruf gibt als seinen.

Die Bibel kennt das Phänomen

Dem Pfarrer kam an seinem Schweigetag die biblische Geschichte des Zacharias in den Sinn. Dieser verlor eine Weile seine Sprechfähigkeit und interpretierte dies als Strafe Gottes. Auch die Autoren der Bibel kannten also das Phänomen der Aphasie. Wahrscheinlich würde auch er Sprachverlust als Strafe empfinden, meint der Pfarrer: «Alles, was mich ausmacht und mit dem ich leidenschaftlich und mit Liebe verbunden bin, wäre in Frage gestellt.»

Die Ergebnisse des «Aphasie-Experiments» sind beeindruckend. Schade allerdings, dass die durchwegs sprachmächtigen Probanden ihre Erfahrungen nicht mit eigenen Worten schildern, sondern innerhalb der journalistischen Porträtform lediglich zitiert werden. Das wirkt distanziert und mitunter passt der Sprachstil schlecht zu den Porträtierten.

Ihren Zweck erfüllt die Publikation dennoch. Als Leser*in wird man durch das Psychoexperiment und die Publikation für die Problematik der Aphasie sensibilisiert. Und es wird deutlich, dass sich die Isolationsschicht und die unfreiwillige Schweigemauer durchbrechen lassen: mit Geduld, Feinfühligkeit und Verständnis für die besondere Situation von Menschen, die das Leben mit eingeschränkter Sprechfähigkeit meistern müssen.

Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash

2 Kommentare zu „Verdammt schweigsam“

  1. Jürgen Friedrich

    Sprech-Sprache ist ein Instrument von Kommunikation, aber nicht das einzige. Hinzu kommen massenhaft andere ‚Instrumente‘. Schrift-Sprache und Musik, Gestik, Licht- und Rauchsignale oder ein Lächeln vermitteln ebenfalls die Tatsache, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist.
    Noch wichtiger dabei ist allerdings die Tatsache, dass jede Beziehung — soll sie lebendig sein — ein geistiges Miteinander darstellt. Dessen Ursprung ist die Beziehung mit Gott.

  2. Jürgen Friedrich

    Mein spontaner Beitrag von heutemorgen fand offensichtlich nicht Zustimmung. Darum hier ein Auszug aus „die wunderbare Welt von morgen“ (Herbert W. Armstrong)

    . . . Die wunderbare Welt von morgen (Herbert W. Armstrong) (Seite 6 + 7)

    Laut Encyclopaedia Britannica ist das Erziehungswesen ein System, mit dessen Hilfe die herrschende Schicht einer Gesellschaft ihre Philosophien, Ideen, Bräuche und ihre Kultur in die Köpfe der heranwachsenden Generation einimpft. Bildung ist und war durch die Jahrhunderte hindurch im wesentlichen heidnischen Ursprungs und Charakters. Das akademische Bildungssystem wurde von dem Philosophen Plato begründet.

    Die moderne akademische Bildung vermittelt den Studenten die Kenntnisse, die nötig sind, um den Lebensunterhalt in einem Beruf zu verdienen – doch sie versäumt es zu lehren, wie man leben soll. Sie begeht das Verbrechen, zwar immer perfektere Techniken zu entwickeln, doch darüber die
    Entfaltung des Menschen zu mißachten.

    In der modernen Erziehung finden wir die Verewigung falscher Wertvorstellungen, die Vermittlung von verzerrten Geschichtsbildern, von verdrehter Psychologie, Kunst und Wissenschaft.

    Einen Baum erkennt man an seinen Früchten: Eine verwirrte, unglückliche, angsterfüllte, zerstrittene, leidvolle Welt, voll von Enttäuschungen, zerbrochenen Familien, Kriminalität, Geisteskrankheit, Rassenhaß, Aufruhr und Gewalt, Zerstörung und Umweltkatastrophen, oft verursacht vom Menschen, voll Krieg und Tod; bar aller Ehrlichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit; ihrer Vernichtung durch Menschenhand entgegensehend – das ist die Frucht der modernen Erziehung.

    Gott bezeichnet dieses Bildungswissen als Torheit – ,,Denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott (1. Kor. 3, 19).

    Das moderne Bildungssystems wird bald durch das richtige und wahre Erziehungssystem der Welt von morgen ersetzt werden. Dieses kommende neue System ist bereits eingeleitet, und wie das sprichwörtliche Senfkorn beginnt es schon, sich in der Welt zu verbreiten es lehrt junge Männer und Frauen die wahren Werte; den Sinn des menschlichen Lebens; den Weg zu Frieden, Wohlstand, Glück und einem erfüllten Leben. Alles dies wird nur möglich durch den heiligen Geist, der geistliches Verständnis ermöglicht. In der Welt von morgen wird eine echte Erziehung das Analphabetentum verbannen und sich über die Erde ausbreiten, wie das Wasser das Meer bedeckt.

    Wissenschaft und Technik

    Die Welt dieses Jahrhunderts hat großenteils in den Naturwissenschaften den Messias gesehen, der sie aus Armut, Unwissenheit, Krankheit und Unglück erretten und alle ihre Probleme lösen soll.

    Wissenschaft und Technik, gemeinsam mit Handel und Industrie, verheißen eine magische Schalthebel-Traumwelt voll Müßiggang, Luxus und Zügellosigkeit.

    Aber die Naturwissenschaften sind nicht in der Lage, den Zweck des menschlichen Lebens zu erhellen. Die Naturwissenschaften kennen die wahren Werte nicht. Sie kennen nicht den Weg zum Frieden. Trotz einiger Fortschritte haben sie die Welt nicht von Armut, Hunger, Krankheit, Angst, Sorgen und Unglück befreien können, auch nicht von Familienzerrüttung, Kriminalität, Geisteskrankheiten und Unmoral.

    Die Früchte der modernen Wissenschaft sind ernüchternd. Wissenschaft und Technik beschränken sich auf physische Zusammenhänge. Sie beschäftigen sich nicht mit dem Sinn des Lebens, mit moralischen Fragen, mit dem Weg zu Frieden, Glück und Freude.

    Freilich bringen sie immer mehr arbeitsparende und Unterhaltungsgeräte hervor, doch haben viele Menschen nicht gelernt, die zusätzliche Freizeit für nützliche Zwecke zu verwenden. Die Folgen sind oft Arbeitsscheu, Habgier und Unzufriedenheit, wenn das Ziel solcher Wünsche erreicht ist. Alle diese Dinge erweisen sich in der Praxis als falsche Werte, die das Unglück nur noch steigern.

    Ständig nimmt die Zahl der Jugendlichen zu, die zwar Geld zum Ausgeben besitzen, aber sonst nur Untätigkeit kennen. Enttäuscht blicken sie in eine hoffnungslose Zukunft und suchen oft Zuflucht in Unmoral, Drogen, Gewalt und Selbstmord.

    Und schließlich bildet die Herstellung von Massenvernichtungswaffen einen wesentlichen Beitrag der modernen Wissenschaft und Technik. Schalthebel-Welt? Ja, heute können Kriegsgegner auf Schaltknöpfe drücken und damit . . . die Welt lahmlegen.

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