Die ganze Welt ist im Krisenmodus, gebannt vom Coronavirus. Die ganze Welt? Nein, eine kleine Gruppe von Menschen entzieht sich der Krise. Sie sind jetzt in ihrem Element. Daniel Koch vom BAG, Marcel Salathé von der EPFL, David Dorn von der UZH, in Deutschland Christian Drosten von der Charité Berlin, und viele andere mehr. Sie sind die Experten in der Krise, vor allem Männer.
Hochkonjunktur der Experten
Experten haben Hochjunktur, man kann ihnen nicht entkommen. Auf Bildschirmen und Zeitungsseiten, in Tweets und andern Formaten begleiten sie uns. Sie erklären uns die Situation, wie gravierend sie sei, und was wir machen müssen, damit sie nicht noch gravierender werde. Sie präsentieren Statistiken, ordnen Zahlen ein, weisen falsche Behauptungen zurück, zeigen Wege auf oder mahnen zur Vorsicht. Das ist gut, sie sind die Experten, die uns durch die Krise navigieren. Ohne ihr Wissen würden wir diese Krise nicht meistern.
Normalreaktionen
Und Sie – fühlen Sie sich als Expert*in dieser Situation? Nein? Dann geht es Ihnen wie mir. Als die Krise wirklich Fahrt aufnahm, hat es mir die Sprache verschlagen. Ich war damit beschäftigt, die IT-Infrastruktur in meinem Homeoffice zum Funktionieren zu bringen. Und sonst? Es war mir nicht wirklich klar, was mit uns passiert. Ehrlich gesagt, ich war ziemlich ratlos.
Über die gewohnte Wirklichkeit legte sich ein undurchsichtiger Schleier von Ungewissheit und Angst.
Ich bewunderte die Experten, die den Durchblick hatten, sofort einzuordnen wussten: epidemiologisch, medizinisch, politisch, ökonomisch. Ich hatte diesen Durchblick nicht. Mit den Statements der Experten gewann die Welt für einen Moment Zuverlässigkeit – so lange jedenfalls bis ein anderer Experte, eine andere Stimme, ein anderes Bild, ein anderer Newsthread, am nächsten Tag, etwas anders sagte.
Im Expertendschungel
Es ist ein Privileg, Experten zu haben, denen man vertrauen kann. Aber mal ehrlich, haben Sie sich in diesen Tagen durch die Dichte von Expertenmeinungen nicht gelegentlich überfordert gefühlt? Und was machen, wenn sich die Experten streiten?
Je spezialisierter die Expertise, umso wahrscheinlicher ist, dass man sich in einigen Punkten nicht einig ist.
Sie kennen das: Gesichtsmasken, ja oder nein? Im Normalfall sind solche Differenzen kein Problem. Aber was, wenn Krise ist und Entscheide davon abhängen, die Tausende von Menschen beeinflussen werden? Wie gehen Sie damit um? Noch fehlt uns ein Handbuch «Wie ich im Expertendschungel überlebe».
Wo selbst Experten nicht mehr weiter wissen
Manchmal gehen mir Experten auf die Nerven. Ich wünsche mir dann, dass sie nicht auf alle Fragen fixe Antworten haben.
In Krisensituationen geht es doch um mehr. Wie stellen wir uns als Menschen, wie stellen wir uns als Gesellschaft auf die neue Situation ein?
Klar, Händewaschen, Homeoffice und «social distancing» sind nötig. Aber darüber hinaus? Viele Menschen stehen vor sehr unsicheren Zeiten. Was wird das mittel- und langfristig mit uns machen? Die meisten unter uns sind es nicht mehr gewohnt, mit radikalen Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten umzugehen. Es fehlen uns die entsprechenden psychologischen und spirituellen «Muskeln». Wie sollen wir damit umgehen? Darauf wissen die Experten, von denen ich rede, keine Antwort. Hier sind sie genauso ratlos wie Sie und ich.
Wo Ratlosigkeit sein darf
Gibt es also keinen Ort für Ratlosigkeit, ausser in unseren privaten Ängsten und Zweifeln?
Nein, das glaube ich nicht. Ist nicht die Philosophie dieser Ort? Sie gibt sich nicht mit Antworten zufrieden, auch wenn sie von Experten kommen, auch wenn moralische Ideale dahinterstecken. Sie fragt hartnäckig nach, welches die Voraussetzungen der Experten sind. Sie analysiert die moralischen Voraussetzungen ihrer Ratschläge, und unterzieht sie der Kritik. Sie weiss, dass guter Rat von Experten nicht nur teuer, sondern manchmal geradezu verheerend ist. Sie weiss, dass menschliches Leben darin besteht, Nichtwissen und Ratlosigkeit auszuhalten.
Ich bin, unter anderem, Philosoph. Gerade jetzt habe auch ich Hochkonjunktur, jeden Tag melden sich die Medien. Man hält mich und meine Zunft für Experten, die Antworten wissen, wenn das Expertenwissen an seine Grenzen stösst. Wissen die, was sie bei uns riskieren?
Was es bedeutet, ein Experte für Ratlosigkeit zu sein, erzähle ich Ihnen in einem anderen Blog. Für heute gebe ich Ihnen nur diesen Rat: Suchen Sie Ihre Ratlosigkeit auf. Was entdecken Sie dort?
Prof. Dr. Markus Huppenbauer hat Philosophie und Theologie in Zürich studiert. 2017 übernahm er die Leitung des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP).
1 Gedanke zu „Sind Sie auch manchmal ratlos?“
Lieber Markus (Prof. Dr.), wie kann man nur so gescheit daher-schreiben und dann so abrupt aufhören und die Leserschaft auf “einen anderen Blog” warten lassen. Das sieht nach “Hund mit abgeschnittenem Schwanz” aus. Was ja “Tierquälerei” wäre… Freundliche Grüsse Reinhard (Rolla, Pfarrer i. R.)