Man sollte gar nichts auf “den Müllhaufen der Geschichte” schmeissen. Frau Weidel (AfD) hatte dort vor ein paar Jahren die Politische Korrektheit deponiert. Sie wird seitdem jedes Mal etwas ramponiert, wenn jemand auch etwas entsorgen möchte.
Müllhaufen und Setzkästen
Nicht viel besser ist allerdings der Müllhaufen, auf dem die Spötter*innen und altväterlichen Besserwisser*innen ihnen unliebsame Ideen und Vorschläge beseitigen. Die altväterlichen Besserwisser sind sich freilich zu fein, um an einen “Müllhaufen” überhaupt zu denken. Sie arbeiten mit dem Setzkasten. Darin können sie alles in die von ihnen vorgegebenen Fächer einordnen. Zum Beispiel Gerhard Pfister, mit seinem Trump-Vergleich:
Wie Trump haben hierzulande manche Mühe, demokratische Entscheide und die Regeln der Verfassung zu akzeptieren. Der einzige Unterschied: hierzulande ists egal.
— Gerhard Pfister 🤍💙💛 (@gerhardpfister) November 29, 2020
Das perfide an diesem “Setzkasten” besteht darin, dass alles, was einem nicht passt, irgendwie genau in ein bestimmtes Fach passt. In jedem altväterlichen Besserwisser-Kasten gibt es mindestens folgende Fächer:
- Das rote Fach: “Das ist Sozialismus. Und wir sehen ja in der Geschichte, wohin das geführt hat.”
- Das braune Fach: “Das ist linker Populismus. Und wir sehen ja in der Geschichte, wohin das geführt hat.”
- Das grüne Fach: “Die sind doch alle scheinheilig. Die Klimajugend schwänzt Schule aber fliegt dann in den Urlaub.” Oder: “Wo wurden wohl diese KOVI-Fahnen produziert? Jedenfalls nicht in der Schweiz, gell!”
- Das goldene Fach: “Härzig, diese jungen Idealisten. Aber am Ende leben wir von einer starken Wirtschaft. Sie sollten sich besser überlegen, wie sie darin ihren Beitrag leisten können.”
- Das pinke Fach: “Haha! ein besoffenes Einhorn. Kommt wir lachen über sie, bis sie niemand mehr ernst nimmt.”
Man könnte das lustig finden. Aber in Wahrheit ist es gefährlich. Solche Setzkästen ersparen nicht nur das Nachdenken, sondern verhindern jede offene Auseinandersetzung. In den USA geht es um ein Wahlergebnis, in der Schweiz um eine Abstimmung. Egal. In den USA bestreitet der Präsident das Wahlergebnis. In der Schweiz wollen Menschen das Wahlverfahren ändern. Egal. In den USA ist das Electoral College die einzige Hoffnung für einen mit der Popular Vote unterlegenen Kandidaten doch zu gewinnen. In der Schweiz wird dieser ähnliche Mechanismus bei Abstimmungen kritisiert. Egal. Einfach ab in das pinke Fach, du besoffenes Einhorn!
Nur: Ein besoffenes Einhorn muss man nicht auslachen. Auslachen muss man nur diejenigen, die einem gefährlich werden können. Weil es keine scheinheiligen, populistischen Sozialist*innen sind, sondern Menschen mit guten Ideen.
Schweizer Besonderheit
Nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Wahlsystem und seinen Schwächen durch das “Winner-takes-all”-Prinzip, sind auch wir auf die Eigenheiten unseres Politikbetriebs aufmerksam geworden. Unsere föderalistische Struktur ist zudem durch die Covid-19-Massnahmen für alle Menschen spürbar geworden – auch und gerade Ende März, als der Föderalismus pausierte.
Zu den Besonderheiten unseres Politiksystems gehört zweifellos die direkte Demokratie. Die direkte Demokratie ist in der Schweiz so ausgestaltet, dass die Stimmbürger*innen als Souverän auf allen Staatsebenen (Gemeinde, Kanton, Bundesstaat) als Inhaber*innen der obersten Gewalt (Souverän) in Sachfragen abschliessend entscheiden können. Auf Bundesebene kann aber nicht über Bundesgesetze abgestimmt werden, sondern immer gleich über Teilrevisionen der Verfassung. Vorgängig prüft das Parlament, ob die Einheit der Form und die Einheit der Materie gewahrt sind und ob die Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts eingehalten werden. Kommt die Bundesversammlung zu einem positiven Ergebnis, wird die Initiative dem Volk zur Abstimmung unterbreitet. Damit eine Initiative angenommen wird, braucht es ein doppeltes Mehr: Die Mehrheit des Volkes (Volksmehr) und die Mehrheit der Kantone (Ständemehr).
Ständemehr als Verfassungsschutz?
Man könnte vermuten, dass das Ständemehr eine schweizerische Art ist, die Verfassung vor dem Volkssouverän zu schützen. Das wäre ein nachvollziehbares Anliegen. Denn anders als z.B. in Deutschland, kennt die Schweiz kein Bundesverfassungsgericht. Das Volk kann über die Bundesverfassung abstimmen. In Wahrheit handelt es sich aber um ein Kind des Föderalismus. Bei der Schaffung des Bundesstaats 1848 wollten die Kantone nach den Erfahrungen mit der Helvetischen Republik sichergehen, dass es nicht ein weiteres Mal über ihren Kopf hinweg zu einer zentralistischen Verfassung kommen würde. Deshalb das Ständemehr und deshalb auch das zweikammrige Parlament aus Volks- und Kantonsvertretung.
Seit 1848 wurden 22 Volksinitiativen angenommen. Allein 10 Volksinitiativen in den letzten 20 Jahren. Seit 1848 sind 9 Vorlagen am Ständemehr gescheitert, in den letzten 20 Jahren eine. Zum Vergleich: In den letzten 20 Jahren sind 93 Volksinitiativen am Volksmehr gescheitert. Das Ständemehr war nie ein taugliches Mittel, um die Verfassung zu schützen. Die äusserst peinlichen Volksinitiative ‘Gegen den Bau von Minaretten’ (vom 08.07.2008) oder ‘Gegen Masseneinwanderung’ (14.02.2012) haben das Ständemehr spielend geschafft.
In der Praxis ist das nicht so schlimm. Wir schützen unsere Verfassung zwar ziemlich schwach im parlamentarischen Prüfungsprozess – Einheit von Form und Materie und zwingendes Völkerrecht – sind aber wahre Genies in der parlamentarischen Umsetzung von Volksinitiativen. Hier kommt dem Bundesrat und dem Parlament die wichtige Aufgabe zu, den Verfassungstext zu interpretieren. Deshalb ist unsere Verfassung gar nicht so wichtig. Entscheidend ist die Umsetzung der Verfassungsartikel. Wir schützen also nicht die Verfassung vor den Stimmbürger*innen, sondern die Gesellschaft vor der Verfassung.
Es wird Weihnachten
Weil wir über unsere Verfassung abstimmen können, könnte man das Ständemehr auch mit einer Volksinitiative abschaffen. Das wäre eigentlich logisch. Dem Restbestand föderalistischer Anliegen wäre ja durch das zweikammrige Parlament zur Genüge Rechnung getragen. Die Kantone und Halbkantone sind ja im Ständerat ohnehin überrepräsentiert. Und das ist gewollt und sinnvoll. Das Problem: Eine Initiative, die unser Abstimmungsverfahren ändern wollte, müsste das Ständemehr erreichen. Es wird deshalb nicht dazu kommen.
Aber man könnte phantasieren: In einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich mehrheitlich nicht mehr mit Kantonszugehörigkeiten identifizieren, könnte man sich neue Stände ausdenken. Der Stand derer, die keine Immobilien besitzen, derjenigen, die Freiwilligenarbeit leisten. Der Stand derer, ohne Ausweispapiere. Und ein Stand für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Es wird nie dazu kommen. Aber es wäre ein bisschen wie Weihnachten. Und wir sehen ja in der Geschichte, wohin das geführt hat.
4 Gedanken zu „Müllhaufen, Setzkasten und Einhörner“
in der schweiz ist minderheitenschutz besonders wichtig, z.b. für das zusammenspiel der verschiedensprachigen kantone. initiativen werden daher zumindest tendenziell von anfang an eher auf gesamtschweizerische interessen hin ausgerichtet (aus sicht der jeweiligen initianten, politiker etc); und zwar als orientiert auf einen bundesstaat, der nicht zentralistisch regiert gedacht werden soll. insofern hat das DOPPELEN MEHR vermutlich viel mehr implikationen als aus der Vogelperspektive erscheinen mag
Der Autor schreibt: “Weil wir über unsere Verfassung abstimmen können, könnte man das Ständemehr auch mit einer Volksinitiative abschaffen. Das wäre eigentlich logisch.” Ich sehe die Logik offengestanden nicht. Konsequenterweise müsste man in diesem Fall auch den Ständerat und somit die Teilsouveränität der Kantone abschaffen. Oder das ganze Parlament. Warum nicht gleich die Schweiz, die sich damit eigentlich überlebt hätte? EU-Region Alpine Mitte täte es doch? Ungefähr in diese Richtung gehen vermutlich die Gedanken der Anhänger*innen der One World-Idee, die auch eine globale Niederlassungsfreiheit anstrebt. Was ich an diesem Artikel auch nicht verstehe, ist die Verbindung von “altväterlich” und “Setzkästen”. Die starre, doktrinäre Kategorisierung von Gesinnungsgruppen scheint mir eher eine “jugendliche” Angelegenheit zu sein.
So also wird die geschichtliche Dimension aufgegeben mit der Preisgabe der Minderheiten-Beteiligung ? Um das Zweikammersystem zu verstehen, braucht es mehr als die hier dargelegte Zweitklässler-Arithmetik, eingeschränkt auf Plus versus Minus. So löst man keine solchen politischen Daueraufgaben. Die regionale Komponente hat ein eigenes Gewicht, die Reformierten können dies nachfühlen, wo sie ihren Gemeinden einen eigenen Wirkungsradius sehr wohl zubilligen. Selbst die EU anerkennt gewachsene Strukturen und will auch die kleineren Länder berücksichtigen. Alles andere führt zu unnötigen Reibereien.
Ich wollte ja die Minderheiten-Beteiligung gar nicht aufgeben. Ich sehe sie im Zweikammersystem aber zur Genüge umgesetzt.