Erst musste ich mich daran gewöhnen, dass ich zur Begrüssung keine Hände schütteln darf und auf Distanz gehen muss. Dann hatte ich mich daran gewöhnt; ich mache es automatisch. Und jetzt fange ich an, die Nähe der anderen zu vermissen. Ich denke das Vermissen nicht, ich fühle es.
Die körperliche Präsenz fehlt
Zwar treffe ich mich mit meinen Kolleg*innen zwei Mal pro Woche in der Videokonferenz. Wir lachen und diskutieren, entscheiden offene Fragen, verteilen Aufgaben; als ob wir miteinander im Büro sässen. Aber trotz Videobildern fehlen ihre Körper. Und damit die Zeichen, die die Körper aussenden und mit denen sie zu verstehen geben, ob sie einverstanden sind oder unwillig, ob sie begeistert sind oder gelangweilt. Mir fehlt ihre Präsenz, wodurch auch ich von meiner Präsenz abgeschnitten bin.
Auf der Strasse, beim Einkaufen oder Spazierengehen treffe ich zwar Leute. Aber es fühlt sich an, als ob sie ihre Körper eingezogen hätten, um sie vor möglicher Ansteckung zu schützen. Ihre Körper sprechen nicht mehr zu meinem Körper. Der schwebt nur noch im Ungefähren.
Die Geschichte einer Berührung
Darum kommt die Geschichte, die an Palmsonntag erzählt wird, für mich genau richtig: Die Salbung in Bethanien (Markus 14, 3-9). Weil mir in ihr das entgegenkommt, was jetzt hier fehlt: Das Überschwängliche, Sinnliche, Körperliche.
Jesus sitzt mit seinen Gefährten beim Essen. Da kommt eine Frau herein, in der Hand ein Alabastergefäss voll echten, kostbaren Nardenöls. Sie zerbricht das Gefäss und giesst Jesus das Öl über den Kopf.
Verschwendung, sagen einige der Gefährten. Das Geld, das dieses kostbare Öl gekostet hat, hätte man den Armen geben können. Jesus verteidigt die «schöne Tat» der Frau an ihm. Wo immer man seine Geschichte erzählen werde, werde man sich auch an sie und ihre Tat erinnern.
Die Sinnlichkeit der Geschichte
Alabaster sieht aus wie Marmor. Wenn es ganz dünn geschnitten ist, lässt es ein warmes Licht durchscheinen. Alabasterhaut nannte man eine sehr helle, ebenmässige Haut mit einem samtenen Glanz. Einst ein Schönheitsideal vornehmer Frauen.
Der Duft des kostbaren Öls, der sich beim Zerbrechen des Gefässes im ganzen Raum ausgebreitet, versetzt schon beim Lesen in gehobene Stimmung. Das Salben des Öls wird nicht beschrieben. Hier kann unsere Fantasie einspringen, die sich das nicht Gesagte lebhaft ausmalt. Aber vielleicht ist es auch beim Ausgiessen geblieben. Dann springt dafür das sündhaft Teure des Öls ein und befeuert die Verschwendung, mit der die Frau Jesus das gab, was sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte und doch geleistet hat. Weil sie ihn liebte und ehrte.
Der Überschwang des Sinnlichen
Die sinnliche Verschwendung, die in diesen Bildern liegt, schwingt über das Sinnliche hinaus zu weiteren Bildern, die mit dem Sinnlichen verbunden sind. Bilder von Salbungen von Königen, mit denen ihnen Ehre angetan und himmlische Kräfte übertragen wurden. Salbung von Kranken, die für Heilung und Trost sorgen. Die Salbung der Toten, die in der Geschichte eigens genannt wird, um auf die bevorstehende Passion Jesu hinzuweisen.
Und die Bilder zweier Liebender, die sich so kostbar sind wie kostbares Nardenöl aus dem Himalaya, durch das die Kostbarkeit der Liebenden zu riechen und fühlen ist.
Man sollte nie «nur» sagen
Es gibt in der Bibel ein Buch, das trunken ist vor Sinnlichkeit: das Hohelied. Das Sehnen und Vermissen, das Suchen und Finden zweier Liebender wird in unendlich erotischen Bildern beschrieben. Man liest es nicht einfach. Man riecht es, man fühlt es.
Dieses Buch stehe nur in der Bibel, weil die Liebenden eigentlich Christus und die Kirche symbolisierten, sagten die einen. Ha, schreien die Spötter, das seien nur kanaanäische Hochzeitslieder, Erotik pur.
Man sollte nie «nur» sagen, sonst bringt man sich um die Pointe. Das Sinnliche und das Symbolisierte oder Übertragene befruchten sich gegenseitig. Das Übertragene wird durch das Sinnliche aufgeladen. Und das Sinnliche durch die übertragene Bedeutung. Wüssten wir sonst heute noch von den kanaanäischen Hochzeitsliedern?
Trost der Erinnerung
Nardenöl stammt von der Narde, auch Speik genannt. Das erinnert mich an die Speikseife, die mein Vater so gerne hatte. Er ist schon lange tot. Da fällt mir ein, wie ich mir einmal unterwegs in einem Restaurant die Hände gewaschen hatte und plötzlich von Glück durchströmt wurde. Es war die Seife. Dieselbe, die auch meine Oma immer benutzt hatte. Das ganze Glück endlos erscheinender Sommerferien in ländlicher Atmosphäre umhüllte mich. Zum Glück gibt es diese Seife noch. Immer wenn ich mir die Hände damit wasche, rieche ich Kindheit.
Zurzeit muss ich sie oft waschen. Danach, wenn ich meine rauen Hände eincreme, kann ich an die Salbung mit all ihren Bildern und Bedeutungen denken.
Oder ich kann mir die sinnlichen Wörter auf der Zunge zergehen lassen. Wie Nardenöl, Himalaya, oder Alabaster. Wörter wie Luft-Küsse.
So taste ich mich in kargen Zeiten über Wörter-Schatzkästchen, Duft-Erinnerungen, Bilderfülle und Symbolisierungen zurück in die körperliche Präsenz, auf dass sie sich bald wieder einstellen möge.
2 Gedanken zu „Lob der Verschwendung“
Einfach nur wunderbar, dieser Artikel…..!
Das ist dann ein schönes Lob! Danke Violette!