Willkommen bei einer weiteren Episode des Podcasts TheoLounge. Dieser wird im Herbst übrigens unter dem Namen «Himmel und Erdung» weiterlaufen: mit Ausrichtung auf Neue Mystik, spirituelle Innovation und Interspiritualität.
Das folgende Gespräch mit der spannenden britischen Spiritualitätsforscherin Linda Woodhead ist eine Übernahme aus dem von Luca Di Blasi geleiteten Postsecular Lab der Universität Bern. Hier nehmen Studierende mit Expert:innen Podcasts zu Fragen des Postsäkularismus auf (die dritte Staffel beschäftigt sich mit Israel und Palästina aus postsäkularer Perspektive).
Ich danke Lisa Bey und Laura Kuhn. Der Podcast ist ausnahmsweise auf Englisch.
The following conversation with Linda Woodhead is taken from the Postsecular Lab. Woodhead explains how spirituality has evolved from a marginalized position to become mainstream in today’s Western world – and how this development is now challenging Christianity.
Verstrickte Beziehung
Linda Woodhead ist Professorin und Leiterin der Abteilung für Theologie und Religionswissenschaften am King’s College London. Sie ist Religionssoziologin und beschäftigt sich in ihren Büchern und Artikeln mit dem Niedergang der Kirchen, dem Aufstieg der Spiritualität, der Nicht-Religion sowie den Werten und Überzeugungen der Generation Z. Hier ein Link zu ihrem Essay:
Woodhead, Linda: «Spirituality and Christianity: The Unfolding of a Tangled Relationship»
Woodhead argumentiert, dass das britische Empire eine entscheidende Rolle gespielt hat in der frühen Geschichte der Spiritualität. Begegnungen mit christlichen Missionaren und deren Kritik und Denunzierung autochtoner Religionen und Kulte als «Idolatrie» (Götzendienerei) stimulierten indigene Eliten, existierende Formen zu rechtfertigen und zu reformieren.
Es entstanden spirituelle Formen, die westlichen Vorstellungen von Religion näher kamen und die – ironischerweise – als fernöstliche Spiritualität und Weisheit im Westen ausserordentlich erfolgreich wurden.
Zeitlose Weisheit vs. engstirnige Dogmatik
Im Zuge dessen entstand ein einflussreiches Narrativ: Alle Religionen verweise auf dieselbe göttliche Essenz, aber die Aufgabe des Ostens besteht darin, die «zeitlose Weisheit» der in Materialismus versunkenen westlichen Welt zu vermitteln.
Der früheste Botschafter dieses Narratives war Vivekananda beim ersten Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago.
Holistic Turn
Die globalisierungskompatible Spiritualität, die damals entstand, charakterisiert Woodhead als «formless mysticism», im Zentrum stehen universelle Liebe, Harmonie und Einheit.
Christliche Dogmen – Sündenlehre, Erlösung durch Kreuzestod Gottes etc. – wirken im Konstrast dazu sperrig.
Gegenüber dem ausgehenden 19. Jahrhundert hat sich laut Woodhead die Situation heute geradezu umgekehrt: Damals sei nur der radikal-liberale protestantische Flügel offen für die Spiritualität des Ostens gewesen; inzwischen sei Spiritualität im Mainstream angekommen – und die fromme christliche Lebensweise zunehmen erklärungsbedürftig.
RefLab Festival 6.-7. September
Übrigens werde ich beim RefLab-Podcastfestival Anfang September mit dem Schweizer Jesuiten und Zen-Meister Niklaus Brantschen über sein Verhältnis zur indigenen Spiritualität, dem Schamanismus sprechen – anlässlich seines jüngsten Buches «Du bist die Welt. Schamanischer Weisheit auf der Spur».
Am 6. September 10.30 Uhr in Zürich, Millers Theater. Herzliche Einladung zu dem Event
Es gibt noch Karten!
- Termin: Samstag, 6. September, 10.30-12.00
- Ort: Theater Millers, Kulturareal Mühle Tiefenbrunnen, Seefeldstrasse 225, 8008 Zürich
- Hier geht’s zu den Tickets
How the marginal became mainstream – Spirituality and Christianity (eng.) | L. Woodhead
3 Gedanken zu „Linda Woodhead: Wie Spiritualität Mainstream wurde – und Christsein erklärungsbedürftig“
Wenn man das zunehmende Interesse an Spiritualität betrachtet, sollte man sich mit Fakten (Zahlen) beschäftigen:
A) 4-5 % erwachsener Menschen haben mindestens eine ´Nahtod-Erfahrung´(NTE) gehabt. wenn diese Leute darüber nur mit jeweils 3 Personen ihres Umfelds gesprochen haben – dann ist ungefähr 1/5 der Bevölkerung bekannt, dass es solche intensiven Erlebnisse gibt.
B) Je nachdem wie lange Menschen zusammengelebt haben und wie alt man ist – erleben 30-80% Hinterbliebene eine verstorbene Person ihres Umfeld nach deren Tod wie lebensecht. Unter dem Stichwort ´Strigoj, Nachtodkontakt, After-death-communication´ aber auch negativ unter ´Wiedergänger, Untote´ findet man im Internet sofort viele Berichte darüber. Wenn über das Erleben solcher ´Erscheinungen´ im familiären Umfeld gesprochen wird – bedeutet dies, dass eine große Anzahl von Menschen davon weiß.
C) per Google-suche [Königing Silvial sieht Gespenster] findet man zahlreiche Medienberichte, wo Königin Silvia über diese ungewöhnliche Erfahrung berichtet. Damit wurde ein sehr großer Anteil der Bevölkerung informiert.
D) Seit der Hippie-Zeit und dem damit verbundenen Konsum von psychedelischen Drogen gehören damit ausglöste phantastische Erlebnisse zum Erlebniswissen vieler Menschen. D.h. eine große Anzahl von Menschen ist mit solchen Erfahrungen vertraut.
Mit A)B)C)D) habe ich nur vier Beispiele dafür vorgestellt, welche zeigen, dass solche ungewöhnliche Erlebnisse – in großer Anzahl(!) – mittlerweile zum Alltagswissen vieler Menschen gehören. Mangels anderer Erklärungen werden diese oft als ´spirituelle Erfahrungen´ bezeichnet.
Wissenschaft/Theologie haben es aber bisher nicht für notwendig befunden, sich ernsthaft um eine vernünftige Erklärung für diese Erlebnisse zu bemühen: D.h. man lässt diese Menschen mit ihren spirituellen Erfahrungen allein und überlässt sie somit der Esoterik, welche diese Lücke füllt.
Dies dürfte auch ein Grund sein, wieso Religionen für viele Menschen uninteressanter werden.
Dieses Gespräch habe ich mir sehr angehört. (Nicht nur, weil ich vor vielen Jahren mal am King’s College studiert habe.) Es hilft, wenn man es mit einer Portion Humor hört. Denn die christliche Mission war immer auch die Geschichte ihrer unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Sie hat Gegenmissionen ausgelöst. Die beliebteste von ihnen ist der globale Yoga-Trend. Die Geschichte der Religion ist eben eine ziemlich anarchische Sache: Religion ist das, was Menschen daraus machen. Das zeigt dieses kluge Gespräch sehr eindrucksvoll. Danke!
@Claussen: “Religion ist das, was Menschen daraus machen.”
Religion ist das, was Theologie der gleichermaßen unverarbeitet-instinktiven und systemrational-gepflegten Bewusstseinsschwäche daraus gemacht hat! 👋🥴🤚