Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Byung-Chul Han: Haben wir zu beten verlernt und wenn ja, warum?

Lesefrüchte: Auf-gelesenes aus spannenden Büchern und Essays.

«Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das Gleiche wie das Gebet.»

«Wir haben die Fähigkeit zur religiösen Aufmerksamkeit, zum Gebet verloren.»

«Nicht Gott ist tot. Tot ist der Mensch, dem sich Gott offenbarte.»

Niemand werden

Ich habe drei Spitzensätze aus einer jüngst erschienenen Essaysammlung vorangestellt: Ihr Titel lautet «Sprechen über Gott», der Autor ist Byung-Chul Han. Die Themenwahl ist bemerkenswert. Han ist einer der international meistgelesenen Philosophen deutscher Zunge. Und Philosophen sprechen nicht oft über das Beten.

Der erste der zitierten Sätze stammt nicht von Han, sondern von der Mystikerin und Philosophin jüdischer Abstammung Simone Weil (1909-1943). Weil erklärte: «Mit der Fülle der Aufmerksamkeit kann man einzig an Gott denken. Umgekehrt kann man an Gott einzig mit der Fülle der Aufmerksamkeit denken. Die höchste Ekstase ist die Fülle der Aufmerksamkeit».

Fülle der Aufmerksamkeit

Fülle der Aufmerksamkeit lässt sich leicht quantitativ missverstehen, im Sinne von: Viel Aufmerksamkeit ist gut, noch mehr Aufmerksamkeit ist besser. Aber in gewisser Weise ist das Gegenteil richtig. Zur Fülle der Aufmerksamkeit gehört die eigene Entleerung.

Han sagt: Simone Weil betrachte die Dinge, «ohne sie sich aneignen, einverleiben zu wollen. Wer zu schauen vermag, entleert sich, wird zum Niemand. Er erzeugt in sich eine Leere».

Und das ist für Han «Religion». Diese «setzt eine Aufmerksamkeit für die Dinge voraus, die sich der Verfügbarmachung, dem Konsum, entziehen». Es geht um das Leerwerden und vom eigenen Willen ablassen als Voraussetzung der Begegnung mit einer Realität, die verschiedene Namen hat. Einer davon ist Gott.

Social Media fressen Seele

Wir alle wissen, wie schwer das ist, gerade in der Social-Media-Welt, in der sich viele von uns bewegen. Hinzu kommt, dass der Vorsatz, für andere und anderes offen sein zu wollen, nicht ausreicht. Wenn wir willensbetont offen sein wollen, verscheuchen wir magische Momente. Wenn wir die schönsten Augenblicke partout als Foto oder Video festhalten wollen, verpassen wir sie in gewisser Weise sogar.

Das gilt nicht erst seit den digitalen Medien. In der digitalsozialen und oftmals asozialen Gegenwart haben wir aber, in den Augen des Kulturkritikers, all das verlernt, was zu Gott hinführt: Stillsein, Hören, Schauen. Hinter der Glaubens- und Kirchenkrise stecke letztendlich ein «Verfall der Aufmerksamkeit». Han:

«Wahrnehmung ist extrem gefrässig geworden. Ihr fehlt jede kontemplative Weite. Sie isst permanent».

Die gefrässige Konsummentalität habe die Wahrnehmung infiziert und zerfresse den tiefsten Kern der Persönlichkeit, die Seele.

Die Such- ist eine Suchtmaschine

«Süchtig machende Algorithmen» und Konsumrausch führen Menschen von der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit weg. Sie schreddern die Wahrnehmung und deformieren unser Urteil, was guttut und was sich böse auswirkt.

«Das Smartphone ist eine digitale Suchtmaschine. Auch die Suchmaschine ist letztlich eine Suchtmaschine».

Ohne Spiritualität, so der Philosoph, schwinde auch die Fähigkeit, geistiges und künstlerisches Neuland zu betreten, kreativ zu sein. Obendrein seien wir als chronisch Zerstreute auch unfähig geworden zum Sozialen, zum Wahrnehmen des Anderen und dazu, ihm in seiner Andersheit Raum zu geben:

«Auch die Nächstenliebe setzt die schöpferische Aufmerksamkeit voraus.»

Auch Spiritualität wird konsumiert

Sogar Spiritualität werde heute unaufmerksam betrieben und eigennützig in den Dienst von Self Care, Effizienz- und Leistungssteigerung gestellt. Auch Spiritualität wird konsumiert.

Das konsumistische Mindset hat sich über kulturelle, religiöse und konfessionelle Unterschiede hinweg global durchgesetzt. In Social Media sind wir selbst das Produkt und die Ware, die wir gestalten, shapen, optimieren, promoten und unablässig bewerben.

Als Social-Media-Redaktion haben auch wir vom RefLab ständig damit zu kämpfen.

Hier aber taucht ein grosser Unterschied zu Simone Weil auf, deren Sätze Byung-Chul Han mit rührender Behutsamkeit birgt und weiter denkt.

Arbeit als Gottesdienst

Weil ist dafür bekannt geworden, dass sie freiwillig stumpfe Fabrikarbeit auf sich nahm und sie zu vergeistigen versuchte. Sie versuchte, auch im alltäglichen Tun eine Art von Gottesdienst zu erblicken.

Wenn Arbeit Gottesdienst sein kann, wie auch Byung-Chul Han betont, wieso sollte das dann aber nicht auch für digitale Arbeit gelten? Ganz zu schweigen von spirituellen Angeboten im Netz, die Menschen als tief, berührend und authentisch erleben.

So ergeht es auch mir, wenn ich mich mit den Menschen im Netzklosters zur Zoom-Meditation verbinde (ich blogge dazu bei RefLab).

Die Schattenseiten der digitalen Welt finde ich genauso beängstigend wie Byung-Chul Han, sein Schwarzweissdenken scheint mir aber fragwürdig.

Protestantischer Spiritualitätsausverkauf?

Byung-Chul Han legt im Abschnitt über «Aufmerksamkeit» den Schluss nahe, dass im Pakt mit dem Kapitalismus der Protestantismus die Blaupause für die gegenwärtige Bewirtschaftung der Achtsamkeit und den Spiritualitätsausverkauf geliefert habe. Hier kippen fein ziselierte Vertiefungen, wie oft bei Han, in Pauschalierungen und kulturkritische Verve.

Bei der Lektüre von «Sprechen mit Gott» stellt sich mir wieder einmal die Frage, wie konfessionelle Prägungen unser Verhältnis zur Spiritualität beeinflussen. Han studierte in Freiburg im Breisgau und München Philosophie, Literatur und katholische Theologie.

Bei reformierten Christ:innen erlebe ich einerseits eine überwältigende Offenheit gegenüber einer Vielfalt spiritueller Formen, gelegentlich aber auch Abgrenzungsbedürfnisse.

Ich habe von Reformierten auch schon den Satz gehört: «Spiritualität ist etwas Katholisches».

Reformierte und Spiritualität

Bei einer Umfrage zu Spiritualität und Religion 2021 in Zürich kam interessanterweise heraus, dass traditionell Reformierte tendenziell angeben, sie seien «religiös, aber nicht spirituell». Aktuelle Zahlen zur Schweiz zeigen einen Rückgang der Religiösen, während die Zahlen derer, die sich als spirituell bezeichnen, relativ stabil sind (aktuelle Zahlen des Bundesamtes für Statistik).

Passt Spiritualität, deren Wesen Unverfügbarkeit und Absichtslosigkeit, schlecht zum Calvinismus?

Manche Reformierte bezweifeln selbst, ob ihre Tradition überhaupt über eine tiefe und authentische Spiritualität verfügt.

«Die Reformierten haben keinen spirituellen Übungsweg», bemerkte kürzlich ein ehemaliger reformierte Pfarrer bei einer öffentlichen Veranstaltung.

Hat er recht? Oder braucht es in der Mystik und Spiritualität Identitätsmarker wie evangelisch, katholisch, esoterisch, holistisch oder schamanisch gar nicht? Weil sich gerade hier Unterschiede auflösen?

Byung-Chul Han, «Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil», Berlin Matthes & Seitz 2025. Neben der «Aufmerksamkeit» befassen sich weitere Abschnitte mit «Stille», «Leere», «Schmerz» oder «Schönheit».

 

Um Himmels willen Schamanismus!

Der spirituelle Lehrer Niklaus Brantschen, Jesuit, Zen-Meister und neuerdings auf schamanischen Pfaden unterwegs, ist übrigens beim RefLab-Podcastfestival am 6. September in Zürich mein Gast. Es gibt noch Karten für die Live-Podcastaufnahme und Buchvernissage von «Du bist die Welt. Schamanischer Weisheit auf der Spur» (erscheint am 25. August im Patmos Verlag).

Spirituelles Archiv

Foto Priscilla Du Preez auf Unsplash

 

1 Gedanke zu „Byung-Chul Han: Haben wir zu beten verlernt und wenn ja, warum?“

  1. «Wir haben die Fähigkeit zur religiösen Aufmerksamkeit, zum Gebet verloren.»

    Tja, da hat er recht, das RICHTIGE ZUSAMMEN-Leben, in der Wahrhaftigkeit von zweifelsfrei-eindeutiger Wirklichkeit, ist Gebet und Glaube – Matthäus 21,18-22

    Antworten

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