Die Frage, ob es Wunder gibt oder nicht, ist eigentlich uninteressant. Die einen sagen ja, die anderen nein und damit ist Schluss. Man kommt weder dem Wunder näher, noch einander, sondern bleibt allein mit der eigenen Überzeugung und dem Zweifel, ob sie stimmt. Aufhorchen liess mich die Bemerkung: «Was die Wunder angehe, lebten wir an der Armutsgrenze». Isabel Zürcher, die das sagte, ist Kunsthistorikerin und befand sich in einem Gespräch mit dem Erzähler und Wortkünstler Michael Fehr.
Als ob man reich sei, wenn man Wunder erlebt; oder arm, wenn sie ausbleiben.
Aber reich woran? Was ist ein Wunder? Vielleicht weiss man das nie so sicher, wie wenn man sich in einer existentiellen Notlage befindet, ohne Aussicht auf Hilfe oder Besserung. Dann wünscht man sich ein Wunder, das einen aus dieser aussichtslosen Situation befreit. Das Wunder ist der Ausweg, den es nicht gibt. Es soll sein, wie wenn man aus einem Albtraum erwacht. Das Leben geht weiter wie vor dem Notfall; als ob nichts gewesen wäre.
Der Notfall gebiert den Wunsch nach einem Wunder.
Das Bild der Jünger kommt mir in den Sinn, wie sie Jesus nachschauen, der vor ihren Augen emporgehoben wird, bis eine Wolke ihn ihren Blicken entzieht. Ich trete in das Bild, mische mich unter die Jünger, schaue mit ihnen in den leeren Himmel und nähre den Wunsch in mir, dass meine jüngst Verstorbenen doch wieder zurückkämen. Als ob sie nie gegangen wären. Wobei ich die Erfahrungen kurz nach ihrem Tod nicht missen möchte: Wie lebendig sind sie in meinem Innern auferstanden. Welche Klarheit legte sich auf ihr Leben. Wie unbefangen konnte ich die dunklen und hellen Seiten unseres gemeinsamen Lebens in den Blick nehmen. Das Gelungene und das Verstörende. Das Grosse und das Kleinliche. Das möchte ich nicht missen. Sie sollen wiederkommen, als ob sie gegangen wären, damit die Klarheit und Wahrheit mit ihrer Wiederkehr wirklich werden kann.
Ich trete in das Bild und mische mich unter die Jünger, damit ihre Geschichte und meine Erfahrung aufeinander eintreten. Um den gemeinsamen Wunsch nach diesem Wunder zu nähren.Der Wunsch ist gross. Nichts geschieht. Die Toten kehren nicht wieder.
Vielleicht müssen wir den Wunsch nach dem Wunder unterscheiden von den Wundern, die sich ereignen. Damit wir sie auch mitbekommen. Oder sind die Wunder, die sich ereignen nur minderwertige Wunder, nicht spektakulär genug, heruntergekauft auf irdische Verhältnisse?
In der biblischen Himmelfahrts-Geschichte ist eine Regieanweisung eingebaut. Zwei Männer in weissen Kleidern stehen plötzlich da und reden die Jünger an: Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel? Ihr braucht hier nicht stehen zu bleiben, als ob Eure Blicke ihn zurückholen müssten. Jesus kommt wieder.
Der Wunsch nach einem Wunder kann einen auch ins Leere laufen lassen. Man steht da und wartet, während das Wunder anderweitig stattfindet.
Die Jünger wenden sich ab und gehen nach Hause. Das Wunder ereignet sich dort, wo sie sich gewöhnlich aufhalten und nicht draussen unter dem leeren Himmel. Es ist ein Sprachwunder: die einen reden, die anderen verstehen. So kommt Jesus wieder. Davon erzählt Pfingsten.
Das eingangs erwähnte Gespräch zwischen Isabel Zürcher und Michael Fehr über unsere Armut in Sachen Wunder ging nicht vom existentiellen Notfall aus, aus dem der Wunsch nach dem einzig rettenden Wunder geboren wird. Die beiden waren auf der Suche nach den Wundern, die sich im normalen Leben ereignen. Ein Wunder meinten sie, sei eine Überraschung oder eine Irritation; etwas, das einen aufstöbere. Um das Wunder zu erleben, müsse man sich dieser Irritation aussetzen, meinte Michael Fehr. Auch wenn sie in einem Säbelzahntiger bestünde, solle man trotzdem kurz innehalten und ihn sich genau anschauen. Selbst wenn man nachher von ihm aufgefressen wird.
Auch wenn das Spektakuläre eines solchen Wunders mehr mit der eigenen Fantasie als mit der Realität zu tun haben mag; ein solches Wunder braucht Mut. Wer will schon aufgefressen werden. Aber sollte der Säbelzahntiger auftauchen, würde ich versuchen, mich an die Worte von Michael Fehr zu erinnern.