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Das grosse Gesicht

Die Dornbuscherzählung gehört zu den rätselhaftesten biblischen Geschichten. Ein Strauch, der brennt, ohne zu verbrennen, und in dem Moses der Engel des Herrn erscheint (Ex 3,2) – das klingt so fantastisch, dass es leicht als Märchen missverstanden werden kann. Dabei wird hier «in wenigen Worten, von denen jedes einzelne zählt, nicht weniger als eine Theorie der Befreiung in der Erfahrung entwickelt». Das jedenfalls sagt Christoph Menke.

Bemerkenswert dabei ist, dass Menke kein Theologe oder Religionswissenschaftler ist, sondern Philosoph und einer der bedeutendsten gegenwärtigen Vertreter der Frankfurter Schule, deren Nähe zum Marxismus und zur Psychoanalyse bislang sichtbarer war als die zur Religion. Aber eben der brennende Dornbusch bildet den Ankerpunkt seiner grossangelegten «Theorie der Befreiung» (Suhrkamp 2022).

Aufscheinen der Wirklichkeit

Die Bezugnahme auf das paradoxe Brennen des Dornbuschs fällt nicht nur bei einem Philosophen wie Menke aus dem Rahmen des Erwartbaren. Diese faszinierende Erfahrung durchkreuzt überhaupt, mit einer Kunstkritikerfloskel gesprochen, unsere «Sehgewohnheiten», ja mehr noch: unsere Gewohnheiten, das Gewöhnliche, die Reproduktion des Normalen. Eben damit öffnet es den Sehenden für die Wirklichkeit, das Wirken des Bildes auf uns, für die «Kraft des fernen Blicks» (Menke), für das »grosse Gesicht» (Buber/Rosenzweig).

So wie Stanley Kubrick in seinem Filmklassiker «Odyssee im Weltraum» die Menschheit mit einer faszinierenden Seherfahrung anfangen lässt, einem Monolithen, so ermöglicht die faszinierende, unsere Wahrnehmung übersteigende Erfahrung radikale Anfänge – also radikale Befreiungen.

Die faszinierende ästhetischen Erfahrung ist also das erste. Sie ist eng mit der Erscheinung des Engels verbunden – dem Boten, in der Deutung Menkes dem Medium, das also, was das Erscheinen ermöglicht. Und dann erst folgen Gottes Worte, die Moses direkt ansprechen («Mose, Mose»). Die göttliche Stimme hat keinen anderen Inhalt als die Befreiung zu sich selbst. Indem Moses auf diese Worte hört, also mit Gehorsam beantwortet, bekommt auch die ihnen zugrunde liegende faszinierende Erfahrung den Charakter der Wahrheit.

Treue zum Ereignis

Wahrheit wird nicht als etwas Objektives betrachtet, sondern sie muss bewährt werden, indem ein Mensch der faszinierenden Erfahrung und ihren Folgen treu ist. Aus einer faszinierenden, aber flüchtigen Erfahrung, wird eine Be-Rufung und eine Befreiung. Diesem Anfang folgend befreit Moses die Israeliten aus der Gefangenschaft, deren biblische Chiffre «Ägypten» lautet. Menke fasst seine These zur religiösen Befreiung so zusammen:

«Die Faszination ist befreiend, die Befreiung beginnt mit der Faszination. Darum geht es in der Erzählung vom brennenden Dornbusch im zweiten Buch Mose (Exodus).»

Das Religiöse ist nur ein Modell radikaler Befreiung. Das andere ist ein ökonomisch-neoliberales Modell, und dies zeigt Menke anhand der AMC-Serie «Breaking Bad». Der Chemielehrer Walter White, Protagonist der Serie, befreit sich aus der Knechtschaft banaler Alltäglichkeit. Auslöser ist ebenfalls eine faszinierende Erfahrung: ein TV-Bild, das White erstmals Chemie, sein Metier, und eine grosse Menge Geld gedanklich zusammenbringen lässt. Die Idee entsteht, im grossen Stil Drogen zu brauen und aus deprimierenden, demütigenden Angestelltenverhältnissen auszubrechen. Eine solche Befreiung in die Selbständigkeit ist durch den Neoliberalismus durchaus gewollt und durch kontinuierliche Sozialkürzungen genudged.

Menke deutet den Neoliberalismus konsequent als Befreiungsprojekt und als «politische Pädagogik» oder «Narrativ der Umerziehung» und keineswegs nur als herrschaftslegitimierende Ideologie.

Er erblickt bei der Exoduserzählung und bei «Breaking Bad» entgegengesetzte Modelle radikaler Befreiung: ökonomisch und religiös, immanent und transzendent, als Selbständigkeit und als Hören oder Gehorsam. Woran nun, meint Menke, scheitern bei aller Verschiedenheit letztlich beide Projekte?

«Sie scheitern an der Macht des Sozialen, die sie nicht brechen können. Das Soziale, gegen das sich die Befreiung richtet, kehrt im Inneren der Befreiung wieder.»

Der neoliberal-ökonomische Versuch, sozial erworbene Fähigkeiten radikal für sich selbst zu nutzen, scheitert daran, dass selbst die angeeigneten Vermögen von der sozialen Anerkennung abhängig bleiben. Sonst sind sie nichts wert. Mit der Vergrösserung der Spielräume wächst daher auch die Abhängigkeit (der Crystal-Meth-Unternehmer Walter White wird zum Getriebenen und Gejagten). Und das transzendente Gebot der religiösen Befreiung? Dieses tendiert Menke zufolge notwedig dazu, selbst wieder (soziales, sittliches) Gesetz zu werden und damit das befreiende Gebot zu vergessen, das ihm zugrunde liegt.

 

Am 27. April von 18.15 bis 20 Uhr hält Christoph Menke (Goethe-Universität Frankfurt) einen Abendvortrag in der Universität Bern (Unitobler Raum F-121) zum Thema «Die befreiende Kraft der Religion – und ihr Scheitern». Den Flyer gibt es hier.

Christoph Menkes «Theorie der Befreiung» ist bei Suhrkamp erschienen.

Hier ein spannendes Interview: Christoph Menke über seine «Theorie der Befreiung» bei Jacobin Talks.

Grafik: Dall-E, L. Di Blasi

 

2 Kommentare zu „Das grosse Gesicht“

  1. eigentlich sollte der Buchtitel sein: Eine Theorie des Gefühls von Freiheit (oder wie man solche Gefühle bzw. subjektiven Gefühlszustände ankurbeln kann)?

  2. Toller Beitrag: inspirierend gerade im Hinblick auf die biblischen und filmischen Bezüge.
    Eine kleine Ergänzung: Walter White ist nicht nur einfach „getrieben“, er hat auch „Lust“ am Regieren/ der Macht und am Bösen- dass ihn das in den Abgrund treibt, ist ihm bewusst und so wählt er aktiv den Tod, damit Jessie leben kann- „Mein Blut für dich gegeben…“

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