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Freiheit und Solidarität sind Geschwister

Im Magazin (vom 4. April 2020, S. 23) schreibt der Philosoph und Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel:

„Wir müssen erkennen, dass die Infektionsketten des globalen Kapitalismus, der unsere Natur zerstört und die Bürger der Nationalstaaten verdummt, damit wir hauptberuflich zu Touristen und Konsumenten von Waren werden, auf Dauer mehr Menschen töten wird, als alle Viren zusammengenommen.“

Gesellschaftliches Experiment

Auch inmitten der Coronakrise ist diese Aussage nicht zynisch, sondern realistisch. Angesichts der Bedrohung durch das Coronavirus üben wir uns derzeit solidarisch in (mehr oder weniger) freiwilliger Selbstbeschränkung und in der Akzeptanz von auferlegten Beschränkungen unserer Freiheit aus Einsicht in deren Notwendigkeit. Wie dieses gesellschaftliche Experiment gelingt, wird eine der Überlebensfragen unserer liberalen Gesellschaften sein. Denn in der Krise wird auch der Ruf nach starken Führungsgestalten lauter – und so manche fragen sich heute, ob autoritäre Systeme nicht besser gewappnet sind und effizienter reagieren können.

Wer autoritären Systemen hier einen Vorteil zuschreibt, der sollte allerdings nicht vergessen, dass dieser vermeintliche Vorteil einen hohen Preis hat und autoritäre Systeme oft auch zum Leugnen und Verdrängen neigen und deshalb gerade keine adäquaten Massnahmen ergreifen (denken wir nur an die Leugnung und Verdrängung zu Beginn der Krise in Wuhan, die Zensurmassnahmen gegen Ärzte).

Breite Akzeptanz

Die Stärke liberaler Gesellschaften besteht darin, dass Entscheidungen und Massnahmen durch einen offenen gesellschaftlichen Diskurs abgestützt sind und nur durchgesetzt werden kann, was von breiten Kreisen der Gesellschaft akzeptiert wird. Sie besteht darin, dass die Freiheitsrechte des Einzelnen hochgehalten werden, aber auch darin, dass Mahnerinnen und Mahner, die auf negative Folgen des Gebrauchs der Freiheit aufmerksam machen, nicht mundtot gemacht werden.

Eine freiheitliche Ordnung hat nichts zu tun mit grenzenloser Freiheit, mit einem Nachtwächterstaat. Nein, eine freiheitliche Ordnung braucht einen starken Staat, der die Freiheiten des Einzelnen garantiert und das Wohl des Ganzen im Blick hat. Ein starker Staat, der dafür sorgt, dass die Macht der Starken eingehegt wird und das Wohl der Schwachen gefördert.

Doppelte Freiheit

Eine zentrale Unterscheidung in der christlichen Ethik ist die zwischen einer negativen Freiheit – einer „Freiheit von“ – und einer positiven Freiheit – einer „Freiheit zu“. Freiheit kann nicht allein und nicht primär als negative Freiheit verstanden werden. Dieses Verständnis von Freiheit ist zwangsläufig verbunden mit der Vorstellung des anderen (und auch des Staates) als Bedrohung meiner Freiheit. Die positive Freiheit sieht den anderen (und auch die staatlichen Regeln) als Ermöglichung meiner Freiheit und stellt diese in den Kontext des Wohls des Ganzen. Freiheit wird zusammengedacht mit Konvivenz. Die/der Andere ist Partner*in meiner Freiheit und frei bin ich da, wo ich aus eigener Einsicht meine Freiheit gebrauchen kann zum gemeinsamen Wohlergehen.

Selbstbeschränkung ist dann nicht ein Widerspruch zur Freiheit, sondern kann vielmehr deren Ausdruck sein. Gerade in der jetzigen Coronakrise ist die Fähigkeit zu freiwilliger Selbstbeschränkung und die weitgehende Akzeptanz einschneidender Regulierungen und Massnahmen aus Einsicht ein Ausdruck unserer Freiheit. Es ist dieser gemeinwohlorientierte und solidarische Gebrauch der Freiheit, der die Stärke liberaler Gesellschaften ausmacht oder ausmachen könnte. Er steht in der Coronakrise auf dem Prüfstand.

Gemeinsame Verantwortung

Viel mehr noch aber wird dieses liberale Freiheitsverständnis nach der Krise auf dem Prüfstand stehen. Werden wir diese Fähigkeiten auch nach dieser Krise nutzen oder wird es das „grosse Nachholen“ geben und den Rückfall in alte Muster? In der NZZ werden wir beispielsweise schon eindringlich vor „falschen“ Parallelen zwischen Coronakrise und Klimakrise gewarnt – obwohl diese offensichtlich sind, weil nur ein Ausstieg aus der grenzenlosen Mobilität und dem Wachstumszwang (was Hartmut Rosa den Zwang zu dynamischer Stabilisierung nennt), weil nur die Fähigkeit zu gemeinsamer Verantwortung für unseren Planeten, einen Ausweg eröffnen kann aus der Klimakrise.

Freiheit und Solidarität

Wir müssen Freiheit neu buchstabieren lernen. Freiheit in der freiwilligen Selbstbeschränkung, Freiheit zum Verzicht auf Privilegien und auf nationale und kulturelle Egoismen, Freiheit in der Akzeptanz notwendiger gemeinsamer Regeln aus Einsicht, Freiheit als Schwester und nicht als Widersacherin der Solidarität und der Gerechtigkeit. Relationale Freiheit statt rücksichtslose Freiheit. Nur so werden wir den autoritären Versuchungen und nationalen Egoismen etwas entgegensetzen können. Und nur so werden wir unseren Beitrag dazu leisten können, dass die Klimakrise nicht zu einer letalen Krise wird. Erinnern wir uns an die Fähigkeit zu einem relationalen Gebrauch der Freiheit, wenn die Rückkehr zur Normalität angesagt ist. Denn die Rückkehr zur Normalität ist gewiss nicht das, was wir brauchen.

 

Photo by Adli Wahid on Unsplash

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