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 Lesedauer: 5 Minuten

Camus‘ Die Pest – und der Abschied von den grossen Worten

Mitten in der Krise das grosse Wort finden! Das Wort, das im allgemeinen Gerede nicht untergeht. Das Wort, das trifft, aufrüttelt, orientiert! Weil es Gottes Wort ist. Weil die Kirche es spricht. Weil es jetzt Gehör findet. Diesen Traum gibt es. Und so manche Amtsträger*in versucht ihn zu leben. Wann, wenn nicht jetzt, und wer, wenn nicht ich? So ähnlich klingt ein gewisses Hintergrundrauschen in manchem Streamen, Posten, Teilen!

In Camus‘ Roman ist es der Priester Paneloux, der inmitten der Krise seinen grossen Auftritt hat. Die Kathedrale von Oran ist übervoll. Auch solche sind gekommen, die den Glauben eigentlich schon hinter sich gelassen haben. Und der Priester führt das grosse Wort. Er erinnert an den hochmütigen Pharao von Ägypten, der von Gottes Plagen in die Knie gezwungen wurde. Er spricht von Schuld und Versagen der Menschen, auch in unserer Zeit. Von Gottes Grösse und Macht, die in der Seuche sichtbar würde. Von göttlicher Hilfe und Hoffnung auf Erlösung, wenn wir jetzt wach würden und umkehrten. Denn nun sei es an der Zeit zu begreifen: Gott ist gross und wir sind klein.

Viele Gläubige nicken und klammern sich an diese Worte. Sie sind dankbar, dass da jemand Sicherheit ausstrahlte. Doch bleiben das wenige. Und es dürfte heute mehr noch als vor 70 Jahren gelten:

Längst ausverkauft ist jedes Bedürfnis, sich in hohen Kirchen das grosse Wort sagen zu lassen.

Und das Leben mit der Pest geht weiter. Und die Quarantäne wird immer strenger. Es zieht sich länger hin mit dieser Seuche, es wird schlimmer, härter, grausamer. Und die Zeit tut, was Argumente nicht vermocht hätten. Es war nicht das grosse Wort, das bleibt. Die Herausforderungen des Alltags, all das Leiden und Sterben sind zu real, als dass die Kraft der Worte dagegen ankam. „Die Wirklichkeit besitzt eine schreckliche Kraft, die zum Schluss alles überwindet.“ (113)

Die Kraft der Realität

Im Zentrum des Romans steht eine Reihe von Menschen um den Arzt Dr. Rieux, die alles tun, was in ihrer Macht steht, die Krankheit zu bekämpfen. Einmal wird der Arzt gefragt, was er von der Predigt des Priesters hält. Nun hätte ein Atheist wie der Doktor manches Böse und Giftige sagen können über den Zynismus der Religiösen, gerade jetzt auch noch Krisengewinnler werden zu wollen. Doch Rieux bemerkt nur:

„Wissen Sie, die Christen sprechen manchmal so, ohne es je wirklich zu denken. Sie sind besser als sie scheinen.“ (83)

Schon das wäre eine schöne Pointe. Das Christentum geht nicht auf im klassischen Klischee „Wasser predigen und Wein trinken“. Es gibt auch ein „Härte predigen, Liebe leben.“ In der Tat, später schliesst sich der Priester den Helfenden in der Klinik an und Rieux bekräftigt: „Ich bin froh, dass er besser ist als seine Predigt.“ (99)

Die Krise verschärft sich. Es wird gelitten, geschrien, gestorben. Und alle grossen Worte sind vergangen. Auch dem Priester. Eines Tages treibt das grausame Sterben eines kleinen Kindes alle Anwesenden in Verzweiflung. Und der Priester „liess sich auf die Knie gleiten, und alle fanden es natürlich, als sie ihn mit etwas erstickter, aber trotz der namenlosen unaufhörlichen Klage deutlicher Stimme sagen hörten: ‚Mein Gott, rette dieses Kind!‘“ (141)

Kleine Worte

Auch dieses Kind starb.

Aber es gibt religiöse Worte, es gibt eine christliche Haltung, die beherzten Menschen noch niemals lächerlich erschienen ist.

Kleine Worte, die ihnen ganz natürlich erscheinen. Weil sie nicht von oben herabkommen. Weil sie ein Gefühl zum Ausdruck bringen, für das es keine anderen Worte gibt. Herr, erbarme dich.

Etwas später berichtet der Roman von einer zweiten Predigt des Priesters. Die Kirche ist nicht mehr so voll. Die Worte sind weniger klar und stark, nicht mehr so möchtegerngross. Am Ende sind nicht wenige verwirrt. Offensichtlich ringt der Priester selbst darum, was er eigentlich sagen wollte. Aber nun sagt er „wir“ und nicht „ihr“. Und wenn es um Gott ging, steht ihm sein Nichtwissen deutlicher vor Augen als sein Wissen. Und klar war vor allem dies: Der Glaube führt uns in die Gemeinschaft der Leidenden und der Helfenden, nicht auf irgendeine sichere Seite.

Der Roman „Die Pest“ ist ein Panorama unterschiedlichster Weltanschauungen in einer existenziellen Krise. Camus‘ Sicht wird man vor allem da vermuten dürfen, wo er seinen Arzt sagen lässt:

Es ist „vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.“ (84)

Ringen mit der eigenen Sprachlosigkeit

Warum – besser für Gott? Warum heisst es nicht: besser für uns? Nun, beim dogmatischen Gott der ersten Predigt wäre es wohl besser für uns, nicht an ein Wesen zu glauben, das keinen Vergleich aushält mit der moralischen Integrität unzähliger Menschen, die in der Krise nicht um sich selbst kreisen, sondern helfen, leiden, lieben.

Ohne dass der Autor diese Möglichkeit für sich selbst realisiert hätte, macht er in seinem Roman eine andere Weise zu glauben zumindest ahnbar: die eines jesuanischen Gottesglaubens, die in der christlichen Ethik bedingungsloser Liebe sichtbarer wird als im Pathos dogmatischer Selbstbehauptung.

An diesen Gott sich zu halten – das ist besser für uns und besser für Gott. Gott verstanden als eine Adresse, an die gerichtet die gebrochene Sprache verzweifelter Sehnsucht ganz natürlich klingt. Vor dem die Sprache ringen darf mit der eigenen Sprachlosigkeit. Und wo der Glaube zu schweigen und zu handeln weiss.

 

Photo by Kuma Kun on Unsplash

6 Kommentare zu „Camus‘ Die Pest – und der Abschied von den grossen Worten“

  1. Solche Geschichten und solche, die sie so nacherzählen wie Thorsten Dietz, werden mir helfen, meine Geschichte zusammen mit anderen weiter zu schreiben – inspiriert, improvisierend, kreativ, ernst und spielerisch. Wie gut tut mir das!

    1. Danke, Andi, freut mich! Es „weiter zu schreiben“, die Erzählung fortsetzen ist so wesentlich. Das mache ich ja auch mit Camus, dessen Christentumsdeutung ist hier ad bonam partem aufgreife. Schön, dass Du mit dabei bist bei solchen Versuchen!

  2. Ein eindrücklicher Text, der in mir eine echte Resonanz auslöst – gerade auch als Pastor einer Gemeinde. Thorsten Du schaffst es meinen gefühlten Ambivalenzen in der alltäglichen Arbeit in dieser Zeit u.a. durch diesen Text einen Ausdruck, eine Stimme zu geben. Danke!

      1. Ich bin tief beeindruckt und bewegt von diesem Blogeintrag. Vielen Dank, Thorsten Dietz! Ich durfte anno dazumal im Rahmen meiner KV-Ausbildung im Französischunterricht Camus‘ „L’étranger“ lesen. Schon damals war ich von Camus grossartiger Bildsprache fasziniert. Nun bin ich auf „die Pest“ sehr neugierig geworden. Sie steht noch nicht in meinem Bücherregal…!

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