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 Lesedauer: 3 Minuten

Aus dem Villen-Ghetto entkommen

Das Klassentreffen

Seine Mutter kaut länger als üblicherweise. Stefan spürt, dass sie nicht nur den trockenen Marmorkuchen sorgfältig im Mund zurecht legt, sondern auch ihre nächsten Worte. «Wenn mich sogar Mama für einen Versager hält, dann bleibe ich heute Abend lieber zuhause», denkt er enttäuscht.

Der durchspeichelte Marmorkuchen wandert den Gaumen hinunter und tränkt ihre Stimme mit einem süssen Tonfall: «Du musst nicht nervös sein: Bei einem Klassentreffen geht es doch gar nicht darum, zu vergleichen, wer erfolgreicher geworden ist. Es werden sich bestimmt trotzdem alle freuen, dich wiederzusehen.»

Erfolge vergleichen

Trotzdem. Ein typischer Mama-Satz, der ihm versucht auf die Schultern zu klopfen und stattdessen mit voller Wucht die Magengrube trifft.

«Ach komm», bestärkt ihn sein Vater. «Du hast andere Prioritäten gesetzt. Immerhin hast du jetzt eine Professur an der ETH, das ist ja auch nicht schlecht.»

«Damit konnte man vielleicht vor zwanzig Jahre noch jemanden beeindrucken», erwidert Stefan verzweifelt. «Heute gilt es als erfolgreich, wenn man es schafft mit einer vierköpfigen Familie in einer WG zu wohnen. So wie Kai. Er konnte schon im Gymnasium jeden Streit schlichten – sogar zwischen den Lehrpersonen! Und er fand immer die richtigen Worte, um jemanden zu trösten. Vielleicht hätte ich auch mehr in meine kommunikativen Fähigkeiten investieren sollen, dann könnte ich jetzt mit meinem sozialen Netzwerk prahlen.»

Aus dem Villen-Ghetto entkommen

Seine Mutter lächelt zuversichtlich: «In ein soziales Netzwerk kann man sich auch einheiraten. Ich habe gehört die Tochter von Hugentoblers sei ziemlich erfolgreich – und sie ist noch Single.»

Stefan ignoriert ihr offensives Zwinkern und fragt erstaunt: «Maja? Als einziges Kind in einer Unternehmens-Dynastie hatte sie eigentlich schlechte Voraussetzungen für ein glückliches Leben.»

«Ja, eine ziemliche Erfolgsstory: Sie liess sich zur Coiffeuse ausbilden und konnte so dem Villen-Ghetto entkommen. Heute ist sie wohl die einzige in ihrer Familie, die psychisch und sozial einigermassen stabil lebt.»

Liebevoller Schubser

Stefans Handy surrt und verspricht ihm eine willkommene Ablenkung. «Hey Stefan, lange nicht mehr gesehen. Kommst du heute Abend auch? Würde mich mega freuen! Gruss Kai.»

Da Stefan schon einmal im Buch «Beziehungspflege für Anfänger» geblättert hat, spürt er sofort die Absicht hinter Kais Nachricht. Mit der Stimmlage einer meditierenden Duftkerze hört er die Autorin sagen: «Sei grosszügig mit denjenigen, die weniger soziales Kapital besitzen – manchmal brauchen sie einen liebevollen Schubser, um an einem Treffen teilzunehmen.»

Sozialer Kapitalismus

Kais liebevoller Schubser stösst Stefan an einen ungewohnten Ort: Er weiss plötzlich, was zu tun ist.

Er streckt sein Rückgrat und holt tief Luft: «Jetzt ist der Moment gekommen. Mama, Papa: Ab heute breche ich jegliche Kontakte zu Menschen ab, die nichts mit meiner Arbeit zu tun haben. Ich werde ein Aussteiger. Ein Revolutionär gegen die Herrschaft des sozialen Kapitalismus», sagt er. Dann tunkt er feierlich sein Handy in den Kaffee.

Grafik: Rodja Galli

 

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