Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

Alltagsmystik: Abstand vom Ego – ein bisschen

Einmal in der Woche ziehe ich mich zurück auf meinen Berg. Er ist nicht besonders hoch, eher ein Hügel mit Weitblick.

Und doch: Von hier oben sieht alles anders aus.

Wer bin ich schon?

Die Stadt liegt unter mir wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem ich blättern kann. Die Häuser wirken klein, die Autos wie Ameisen, das Getöse dort unten seltsam fern. Und mit der Stadt schrumpfen auch meine Sorgen.

Die meisten Sorgen schwinden, wenn ich aufhöre, mich so furchtbar wichtig zu nehmen.

Ich blicke auf mein Leben von oben. Es wirkt nicht mehr ganz so dramatisch. Wie oft habe ich mich verrannt in die Bedeutung meiner Aufgaben, in das, was andere von mir denken könnten. Jetzt blicke ich – von oben – auf all die Orte, an denen ich die Woche über war. Und in vielen Momenten dachte, dieser Ort, an dem ich bin, ist das ganze Universum.

Und plötzlich frage ich mich: Wer bin ich, dass ich mich schon wieder für das Zentrum gehalten habe? Der Abstand zur Stadt wird zum Abstand zu meinem Ego. Und in dieser Distanz liegt Heilung.

Vergänglichkeit, die schön macht

Wenn ich dort oben stehe, geht in mir ein Film los. Ich sehe Szenen der vergangenen Woche vor meinem inneren Auge: Gespräche, Begegnungen, Entscheidungen. Und ich merke: So vieles davon war wichtig – aber nichts davon ist ewig. Und gerade das macht es schön.

Die Vergänglichkeit lädt mich ein in den Moment der Ewigkeit, in dem die Zeit stillsteht.

Die Endlichkeit meines Lebens verleiht jedem Moment Tiefe. Ich weiss: Jeder Tag zählt. Jeder Atemzug ist ein Geschenk.

Der Berg ruft mich nicht heraus aus der Zeit – er ruft mich hinein. In die Gegenwart. In das Jetzt, das so schnell vorbeigeht. Aber gerade deshalb so leuchtet. Die Vergänglichkeit macht den Moment kostbar. So wird die Erinnerung an die Endlichkeit zu einer Glocke, die mich dazu aufruft, innezuhalten.

Ich lebe!

Dort oben passiert noch etwas anderes. Ich spüre mich selbst. Nicht in Form von Gedanken oder Selbstoptimierung. Sondern ganz existenziell. Ich bin. Ich existiere. Und das ist – bei aller philosophischen Nüchternheit – ein Wunder.

Es ist nicht selbstverständlich und erst recht nicht normal, dass ausgerechnet ICH lebe.

Ich hätte auch nie geboren werden können. Oder jemand anderes sein. Aber nein: Ich bin ich. Und das ist nicht belanglos. Zumindest für mich. Es ist das grösste Wunder meines Lebens.

Gleichzeitig relativiert sich mein Dasein in Anbetracht des Horizonts. Ich bin ein Teil des Ganzen, nicht das Ganze selbst. Diese paradoxe Erkenntnis – dass ich wertvoll bin und zugleich nicht der Nabel der Welt – ist eine stille Befreiung. Eine unverwechselbare Würde und eine heilsame Dezentrierung zugleich.

Zwei Seiten einer Wahrheit

In dieser stillen Klarheit beginnt etwas Grösseres in mir zu sprechen. Ich spüre: Das, was mich hier trägt, ist mehr als gute Luft und Aussicht. Es ist Geist. Präsenz. Gegenwart. Vielleicht sogar: Gott. Nicht als Blitz und Donner, sondern als leises Wissen.

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis sind zwei Arme eines Flusses, der aus derselben Quelle entspringt.

In den biblischen Texten geschieht Gottesbegegnung oft auf Bergen. Mose begegnet Gott am Horeb in einem brennenden Dornbusch (Ex 3,14). Und Mose erkennt sich selbst als Befreier, dazu berufen, das Volk Israel aus der Knechtschaft zu führen.

Später, auf dem Sinai, hört das ganze Volk die Stimme Gottes in der Wolke. Und erfährt dabei nicht nur, wer Gott ist, sondern auch, wer es selbst ist: erwählt, Licht für andere zu sein.

Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehören untrennbar zusammen.

Vom Berg ins Tal

Ich kenne das Gefühl schon: Wenn ich oben bin, würde ich am liebsten dort bleiben. Auf dem heiligen Berg fernab der lauten Stadt und ihrer Sorgen. Wie Petrus auf dem Berg der Verklärung. Drei Hütten bauen. Den Moment konservieren.

Aber das geht nicht. Die Heiligen Momente wollen nicht festgehalten, sondern bewahrt und ins Tal getragen werden.

Der tiefste Sinn der Bergmomente ist der neue Blick auf alle Nicht-Bergmomente meines Lebens.

Also gehe ich wieder hinab. Zurück ins Tal. In das Gewusel. In den Stress. Aber ich gehe anders. Mit einem veränderten Blick.

Das Leben bleibt äusserlich gleich. Aber innerlich ist es reichhaltiger geworden. Die triviale Dimension des Lebens bleibt, aber sie wird geheiligt. Das Profane entpuppt sich als das Heilige. Aus dem Grau leuchten bunte Farben. Die Kontur ist die gleiche, aber die Strahlkraft ist anders geworden.

Und manchmal denke ich: Vielleicht ist genau das die Bedeutung des leuchtenden Gesichts von Mose, als er vom Berg kam, auf dem Gott ihm begegnete (Ex 34,29). Er hatte etwas gesehen. Und das hat ihn verändert. Nicht nur ihn, sondern sein ganzes Gesicht, seine ganze Ausstrahlung, sein ganzes Sehen.

Gott im Alltag

Wenn ich dann durch den Alltag gehe, merke ich: Der Berg hat mich wach gemacht. Nicht, um mich aus der Welt zu holen, sondern um mir zu zeigen, dass die Welt selbst heilig ist. Die Küche. Der Strassenverkehr. Die E-Mails. Das Gespräch mit meinem Mitmenschen. Alles Sakramente göttlicher Gegenwart.

Der Berg zeigt mir: Gott ist nicht dort oben. Gott ist überall. Auch im Tal.

Aber ohne den Blick von oben hätte ich das nicht erkannt. Die heilige Weite lässt mich das Heilige im Alltäglichen sehen. Und plötzlich strahlt mein Tag. Nicht, weil sich alles verändert hat, sondern weil ich anders schaue.

 

Zum Autor: Unter dem Titel «Alltagsmystik» veröffentlichen wir drei Texte von Theologen Martin Thoms – das ist der dritte und letzte. Der erste war: «Mein Leben überholt mich gerade – wie hole ich es wieder ein?», der zweite: «Ich bin ver-rückt – du auch?».

Wenn dich das Thema interessiert: Hier findest du das Tagebuch einer Netznovizin von Johanna Di Blasi.

«Was ist Mystik?» von Evelyne Baumberger.

 

Foto von Daniel Jiménez auf Unsplash

Alle Beiträge zu «Alltagsmystik – Martin Thoms»

3 Gedanken zu „Alltagsmystik: Abstand vom Ego – ein bisschen“

  1. Wenn wir eine/n neue/n Reiz/Gedanken/Situation wahrnehmen, dann ist die erste Reaktion unseres Gehirns, dass dazu sofort eine passende, identische Erfahrung aus dem Gedächtnis reaktiviert wird. Dies ist unser allerwichtigster Überlebensmechanismus – da damit eine schnellste, sofortige Reaktion möglich ist (Fachbegriff: predictive coding/processing).
    (Eine ERFAHRUNG besteht in unterschiedlichen Anteilen aus den Komponenten a) Faktenwissen, b) Körper-Reaktion, c) Sinnes-Reaktion, d) Immunsystem-Reaktion und e) Emotionen)

    Allerdings gibt es dadurch einige Probleme:
    A) Diese erste, schnellste Reaktion kann falsch sein – da Schnelligkeit für das Überleben wichtiger ist, als Qualität.
    D.h. Wenn wir nicht sofort reagieren müssen, dann sollte man sich für eine Handlung/Entscheidung etwas Zeit nehmen und gedanklich mehrere Alternativen durchdenken. ´Eine Nacht darüber schlafen´ – führt zu besseren Entscheidungen.

    B) Welche Reaktion von unserem Gehirn aktiviert wird, hängt immer von unserem aktuellen Umfeld ab – da deren Wahrnehmung deutlich beeinflusst, WAS und WIE wir Denken und Handeln.
    Und dies ist ein wichtiger Grund, warum die oben beschriebene Vorgehensweise – auf den Berg zu gehen – sehr gut funktioniertund deshalb eine gute Idee ist: Weil unsere aktuelle Umwelt immer mit beeinflusst, WAS und WIE wir Denken – ermöglicht diese Veränderung unseres Umfeldes (Landschaft, Klima, Verkehr, Flora und Fauna) dem Gehirn, sich mit Ideen, Vorstellungen zu beschäftigen, welche im normalen Alltag üblicherweise nicht stimuliert werden.
    Man muss dazu nicht unbedingt auf den Berg gehen – oft reicht es schon aus, wenn man in den Garten, einen Park oder an einen Fluss in der Nachbarschaft geht. Denn jede Ortsveränderung führt zur Veränderung unsere aktuellen Wahrnehmung und damit zu neuen Gedanken.

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  2. Im Paradies, wo es sicher auch Berge gab/gibt, saß “Adam” und sinnierte “Ach wie schön ist Panama” – Und auch wenn Mensch nicht gestorben ist, dann war die Reise und der ganze Rest für’n …!?

    Vernunftbegabter Mensch bedeutet ALLE, dem Ursprung entsprechend – Gott ist die Vernunft des Geistes / des Zentralbewusstseins der Schöpfung.

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