Kann mein Spiegelbild mich wirklich ansprechen?
Ein Spiegel, der zu mir spricht. Frau Königin hatte ihn an der Wand. «Spieglein, Spieglein …?» Und er konnte antworten. Märchenhaft! Aber wir reden hier über mehr. Weil uns vorm Spiegel tatsächlich Erstaunliches passieren kann. Nämlich immer dann, wenn er uns plötzlich überrascht.
Für einen Moment, der sich weder garantieren noch verfügen lässt, stehen wir uns dann selbst wie gegenüber. Das eigene Bild berührt uns.
Häufig reagieren wir sofort darauf. Mal aufgescheucht: Was hat das Leben aus mir gemacht? Aber dann auch beschwingt: Hui, das sieht richtig gut aus! Diese Selbstbegegnung kann mich, mein Handeln und den Tag verwandeln. Sie wäre dann eine echte Resonanzerfahrung im Sinne Hartmut Rosas: Berührung (Affizierung) – Selbstwirksamkeit (Antwort) – Anverwandlung (Transformation) – Unverfügbarkeit (aus: Unverfügbarkeit, S. 37-47). An einem solchen, antwortenden Selbstverhältnis des Menschen hat christliche Spiritualität ein vitales Interesse. Und im Gebet üben die geisterfüllten Menschen seit biblischen Zeiten das Gespräch mit der eigenen Seele, dem eigenen Körper. Es scheint also gute, geistliche Gründe dafür zu geben, in den Spiegel zu schauen.
Narzisstisch verführt
Derselbe Spiegel, in dem mir etwas anderes, was Neues von mir zu begegnen vermag, kann auch das verhexte Medium sein, durch das ich die heilsame Differenz zwischen mir und meinem Spiegelbild auflöse. Gar nicht märchenhaft. Anscheinend können wir kaum widerstehen, das wohltuende Erlebnis, uns selbst ansprechend zu finden, eigenmächtig zu reproduzieren. Wir verbringen immer mehr Zeit vor dem Spiegel. Denn nur mit seiner Hilfe können wir ja das verändern, bei dessen Anblick wir dann später „wow“ sagen. Eine solche Verfügung über das eigene Spiegelbild kann eine vorübergehende Kitschphase sein.
Nicht ganz so harmlos ist die selbstverliebte Verschmelzung mit dem eigenen Bild. Sie macht nicht nur elend einsam, sondern schlägt schnell in Selbstverachtung um.
Da braucht ja nur ein Blatt die glatte Oberfläche meines Spiegelsees zu verzerren, und schon findet Narziss sich entzaubernd hässlich.
Gnadenlos überführt
Ganz ähnlich mag es denen ergehen, die sich mit Hilfe bestimmter Spiegel den ungeschminkten und empfindlichen Wahrheiten ihres Lebens stellen wollen – auch geistlich, etwa mit Hilfe der zehn Gebote als Beichtspiegel. Um sich und die Welt positiv zu ändern. „I’m starting with the man in the mirror. I’m asking him to change his ways“ (Michael Jackson). Aber wer weiss schon, ob die dunklen Spiegelungen hier nicht alle Lichter des Lebens ausknipsen, weil die überführende Selbsterkenntnis zu einer unumkehrbaren Höllenfahrt wird.
Bin ich stark genug, den Anblick meines ungelebten Lebens, der falschen Entscheidungen, der nicht ergriffenen Möglichkeiten auszuhalten und fruchtbar zu machen? Oder führt mich das in eine lähmende Melancholie?
Dann sitze ich wie Harry Potter vor dem Spiegel Nerhegeb, gebannt von meinen unerfüllten Sehnsüchten.
Lieblos irregeführt
Schliesslich fällt mir auf, dass ich nie allein in den Spiegel schaue. Es kommt der Tag, da taucht – in meinem Fall – „der Schneewitcher“ hinter den Bergen auf. Die Bilder der anderen oder auch das Bild, von dem ich denke, dass sie es von mir haben, vervielfältigen meinen Spiegel zu einem Labyrinth. Und je mehr ich mich an den Bildern orientieren will, desto weniger weiss ich noch, was eigentlich mein Spiegelbild war. „Das Ich wird zum Ich der anderen und steht dann allerding vor dem Problem, aus den Tausenden von Spieglungen ein Bild für sich selbst zu gewinnen“ (Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, S. 24-25).
Geistesgegenwärtig in den Spiegel schauen
Also was jetzt? Die Spiegel unseres Lebens verschwinden lassen oder gar zerschlagen geht wohl nicht und könnte in einer Selbsttäuschung enden. Wohin aber mit den üblen Projektionen zwischen Hybris und Tristesse? Ich weiss auch nicht, mag aber auch nicht glauben, dass wir vorm Spiegel von allen guten Geistern verlassen bin. Entlang dieser Ahnung versuche ich es mit acht Angeboten, die vielleicht helfen, eine geistesgegenwärtige Schau in den Spiegel einzuüben:
- Was Dich von innen oder aussen zwingt, in den Spiegel zu schauen, ist höchstwahrscheinlich das, was Dein Spiegelbild dann auch verzerren wird.
- Lass Dir von niemand einfach den Spiegel vorhalten. Nimm die Liebe als Kriterium, das darüber entscheidet, wer Dir die angenehmen und die unangenehmen Wahrheiten Deines Lebens spiegeln darf.
- Noch bevor Du in den Spiegel schaust, erblickt Gott in Dir sein eigenes Spiegelbild. Denn vor lauter Liebe hat er Dich in seinem Bild erschaffen. In dieser Liebe ist es überflüssig, Deinen Spiegel vom Spiegel Gottes zu unterscheiden.
- Wundere Dich nicht, wenn Dir im Anblick Deiner selbst das göttliche Andere Deiner selbst begegnet. So hält der Geist Gottes jene Differenz zwischen Dir und Deinem Spiegelbild offen, die Dir ein resonantes Selbstverhältnis ermöglicht.
- Heiterkeit und Humor verhelfen Dir zu einer gesunden Distanz zu Deinem Spiegelbild. So kannst Du vor dem Spiegel über Dich selber lachen, ihn zuklappen und – wenn nötig – Dich auch getrost wieder vergessen.
- Ob Deine Spiegelübungen gelingen, kannst Du vielleicht daran ablesen, dass Du Deinem Spiegelbild angemessen zu antworten vermagst. Ein gutes Zeichen ist, wenn sich nachhaltige, heilsame Veränderung ergeben, etwa Trost, Hoffnung, Freiheit, Orientierung oder Liebe (Früchte des Geistes).
- Dein Spiegelbild darf Dich erschrecken und traurig machen. Probiere es ruhig aus, ob Du nicht gerade so zu einem empathischen Menschen wirst, der an der Seite derer lebt, die vor ihren Spiegeln verschmachten und zerbrechen.
- Dein Spiegelbild darf Dich ansprechen und mit Selbstbegeisterung verzaubern. Probiere es ruhig aus, ob Du nicht gerade so zu einem Menschen wirst, die andere berührt und ansteckt, damit auch sie von sich selbst begeistert leben.
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2 Gedanken zu „Spieglein, Spieglein …“
Ich sehe Dich in meinem Spiegel.
Und lächelt mich mit feuchtem Auge auf.
Nacht weicht gleich
.
Der Tag ist da
Lieber Andreas, ich gehe weiter neugierig in deinen Gedanken spazieren und treffe mich “natürlich” selbst. Bedenken, Zweifel, Hoffnung, Berührung, Einsamkeit mit mir selbst, mich totlachen im Angesicht vieler Spiegel, Klänge und Farben. Sehnsucht nach Einklang mit all den vielstimmigen Orchestern um mich herum.
Notizen
Je komplexer ein Leben ist, umso einsamer kann ein Mensch sein. Er erlebt evtl. zu wenig Referenzierung, zu wenig Gleichklang, zu wenig Harmonie.
Manche Geister dieser Art sind diejenigen, die ihre vielschichtige Komplexität transparent kommunizieren können, so finden sie zumindest jeweils parziell auch Verständnis, welches in der Gesamtheit Anerkennung und Zustimmung erzeugt. Du hast dabei evtl. viele aber doch distanzierte Fans.
Für Verrückte ist verrückt sein Normalität. Was sagt die statistisch ermittelte “Norm” über den Einzelnen aus? Erstmal nichts.
Eine statistische Norm sagt also nie konkret etwas über einen konkreten Istzustand in Relation richtig-falsch, gut-böse, klug-dumm, hilfreich-schädlich usw. bei der Menge aller “Einzelbeobachtungen” aus. Also bin ich ok. Ich neige folglich dazu, eine zu mir selbst passende Peergroup, also Zustimmer, Versteher zu suchen und zu finden. Umgekehrt wird dies wieder eine Verengung des Horizontes. Passender Stallgeruch, vielleicht Vereinsmeierei, aber bequem und erholsam.
Wichtig erscheint mir der Gedanke der Prozessualität im Zusammenspiel auf dem Zeitstrahl. Wir reden zu oft über subjektive Momentaufnahmen, über Screenshots. Zeit verändert knallhart alles, wirklich alles.
Entwicklung ist ein vieldeutig umfassendes Wort. Es sagt zunächst einmal nichts aus über positiv oder negativ. Selbst diese beiden Begriffe sind relativ, abhängig von allem, was in mir und um mich herum geschieht und wie ich es subjektiv deute. Regen passte gestern gut und morgen nicht.
Kurzum, jeder Mensch hat eine ganz eigene und subjektive Erfahrungswelt in seinem Kopf. Und: Kein Säugling überlebt 5 Tage ohne Gemeinschaft.
Jeder braucht Gemeinschaft. Gemeinschaft ist das höchste Gut.
Trost, Hoffnung, Freiheit, Orientierung und Liebe finden sich nur wirk-lich im Gegenüber.
Gott ist dafür meine Formel. Es ist bedeutsam, daß sich dieser Gott für mich in einem Menschen zum Ausdruck bringt.
Anfassbar, berührbar, fühlbar, großherzig, barmherzig, geht meilenweit mit, sucht mich im Dornengestrüpp abseits des Weges.
Es ist übernatürlich.
Ich bin es. Du bist es. Wir sind es.
Das ist, was uns bleibt.