Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 4 Minuten

Manchmal schäme ich mich: für mein Land

«Warum bleibst du nicht einfach hier?», fragte mich der kleine Joaquín, während wir auf einer Bank vor seiner Hütte sassen und auf das nächtliche Lichtermeer von Lima schauten. Es fiel mir nicht leicht, seine Frage zu beantworten. Das Leben in Peru gefällt mir. Ich habe Freunde gefunden. «Weil die Schweiz meine Heimat ist», gab ich Joaquín zur Antwort, und er schien mich zu verstehen.

Swiss Made auf dem Herzen

Heimat. Geschmolzener Käse schmiegt sich an mein Brot, ich schmiege mich an den warmen Kachelofen und lache über einen Appenzeller-Witz. Lauter als es die Pointe verdient hätte.

In diesen Momenten bin ich gerne Schweizerin.

Aber es gibt auch Momente, in denen ich den «Swiss Made» Sticker lieber von meinem Herz abreissen würde.

Manchmal schäme ich mich

Seit 2020 teilen sich die Schweiz und Peru nicht nur mein Herz, sondern auch ihre CO2-Emissionen: Die Schweiz finanziert effizientere Kochherde in den peruanischen Anden und kann dafür ungestört Emissionen in die Luft pumpen. Es klingt nach Win-win: Peruanische Bäuer:innen sparen Brennholz ein und die Schweiz macht kleine Schritte in Richtung Klimaneutralität.

Diese Projekte sind relativ günstig und bewirken eine schnelle CO2-Reduktion.

Das Problem dabei ist: Die wichtigen und teuren Stellschrauben werden nicht bewegt – weder im Inland noch im Ausland. Die Schweiz erntet tiefhängende Früchte in Peru, während sie zuhause die Autobahnen weiter ausbaut. Peru muss dann selbst zusehen, wie es die teuren Energie- und Verkehrsprojekte umsetzt, um ihre eigene Klimabilanz zu verbessern.

Klimaschutz also ja – aber nur so, dass unsere Bevölkerung keine Einschränkungen spürt. Die Schweiz will weiterhin bis zu 30% ihrer Emissionsreduktion durch Auslandkompensationen decken und geht damit einen Sonderweg im globalen Vergleich. [1]

Vom Schweizerkreuz zur Red Flag

Je mehr ich darüber lese, desto stärker würgt sich der halbverdaute Fonduebrocken wieder seinen Weg nach oben. Das stolze Schweizerkreuz schmilzt und zurück bleibt eine «Red Flag».

Die Beziehungskrise zu meiner Heimat ist auch eine Beziehungskrise zu mir selbst.

Normalerweise fühle ich mich angesprochen, wenn jemand über «Gutmenschen» schimpft. Doch wie kann ich mich als Gutmensch sehen, während ich in einem wohlhabenden Land wohne, welches seine globale Verantwortung vernachlässigt? Ich profitiere jeden Tag von unserem Verkehrsnetz, unserem Gesundheitswesen und zahle in eine Pensionskasse ein, welche vermutlich in fossile Energien investiert.

Das alles stösst CO2 aus und kostet Geld, welches dann fehlt, um nationale oder globale Klimaziele zu erreichen.

Heimat wird plötzlich ungemütlich. Selbstzweifel wehen mir die Gutmensch-Maske vom Gesicht. Meine Nation widert mich an. Auf einmal klingt jede Kuhglocke wie ein Alarm. Es fühlt sich falsch an, die Errungenschaften der Schweiz zu feiern. Es fühlt sich falsch an, den ersten August zu feiern.

Es sind nicht Schuldgefühle, die mich davon abhalten – schliesslich waren die Auslandkompensationen nicht meine Entscheidung. Es ist Scham. So wie man sich als Kind für den eigenen Vater schämt, wenn er in der Öffentlichkeit tanzt: Wir gehören zur selben Familie, deshalb betrifft sein peinliches Verhalten auch mich. Heute tanzt die Schweiz und ich wäre lieber in Peru. Dort ist zwar nicht das Leben leichter, aber das Gewissen.

Wohlstand und Christentum – geht das überhaupt?

Sich selbst als «Gutmensch» zu bezeichnen, wäre etwas seltsam. Ich nenne mich aber gerne «Christin». Das hat eine ähnliche moralische Frequenz. Wie kann ich vom Schweizer Wohlstand profitieren und gleichzeitig einem mittellosen Wanderprediger nachfolgen, der für Reiche nur ein müdes Lächeln übrig hatte?

Die Kirchengeschichte ist voll von Menschen, die ihren Besitz verschenkten, weil dieser nicht zu ihrer christlichen Gesinnung passte.

«Aber Jesus hatte ja auch vermögende Nachfolger:innen», meldet sich mein innerer Heimatschutz, «und die ersten christlichen Prediger wurden manchmal von Reichen durchgefüttert.» [2]

Wohlstand scheint im christlichen Glauben Platz zu haben. Aber nur dann, wenn er grosszügig mit anderen geteilt wird.

Trotz allem werde ich heute den Schweizerpsalm singen – vielleicht sogar inbrünstig.

«Betet, freie Schweizer, betet.»

Lasst uns beten um etwas weniger Angst davor, selbst zu kurz zu kommen. Und etwas mehr Freude daran, mit anderen zu teilen.

[1] Vgl. https://www.nzz.ch/schweiz/klima-schweiz-geraet-wegen-auslandkompensationen-in-die-kritik-ld.1711643
[2] vgl. Apostelgeschichte 16,14-15

Bild: Bundesfeier in Basel (2012), Wikimedia

4 Gedanken zu „Manchmal schäme ich mich: für mein Land“

  1. Mir geht es genauso, hin- und gergerissen zwischen Scham und Freude, Schweizer zu sein. Das zeigt mir, dass ich mitten im Leben verankert bin: Ich nehme wahr und akzeptiere, dass nicht alles rosig ist und meinen Vorstellungen entspricht und doch kann ich mich an den kleineren und grösseren Dingen freuen, die in der Gesellschaft meinem Gutdünken entsprechen. – Jesus sagt ja: “Ihr seid in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt.”
    Und den Schweizer Psalm singe ich gerne. Zwar finde ich den Text ziemlich veraltet und zu militärisch-wehrhaft. Aber Sinn für mich macht, dass ich Gott für meine Heimat danke. Ich habe ja keinen Verdienst daran, ich wurde hier hineingeboren. Und Glück habe ich auch, dass ich Kirchenmusik liebe! 😃
    Aber ich verstehe, dass nicht alle Menschen etwas mit dieser Tradition anfangen können. Darum ist es an der Zeit, dass die Schweizer Nationalhymne modernisiert wird. 🇨🇭

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    • Das ist tatsächlich richtig. Das war noch bevor ich wirklich „klimabewegt“ war. Und es ist auch ein Grund, warum ich verstehe, dass junge Menschen noch „etwas von der Welt sehen“ und nicht komplett aufs Fliegen verzichten wollen – ich hatte dieses Privileg ja auch.
      Jetzt halte ich den Kontakt zu meinem peruanischen Freund:innen nur noch per FaceTime 🙂

      Antworten

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