Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 7 Minuten

Eintritt nur für Verrückte

Ich habe den Kindergarten in der «Missione Cattolica Italiana» in Bern besucht und wurde christ-katholisch erzogen. Ich kann mir noch gut an Suora Agnese erinnern, eine freundliche Nonne, die menschliche Wärme ausstrahlte und immer gut gelaunt war. Natürlich sind meine Erinnerungen diffus, aber mir kommen die folgenden Szenen in den Sinn, die aus einem Meer von Vergessenheit als sichtbare Wellen stärker hervortreten: Wie wir gemeinsam Teig geknetet, mit Mehl vermischt und Gnocchi geformt haben und wie wir als Kinder in (biblischen) Theaterstücke aufgetreten sind. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich anschliessend den Religionsunterricht besuchte und Messdiener wurde. Ich weiss noch, wie ich anfangs Angst hatte, meine Einsätze während der Messe zu verpassen (Wann soll die Glocke läuten? Wann kommt die Kollekte?). Und mir bleiben auch die bösen Blicke des Priesters in Erinnerung, wenn wir Kinder während der Zeremonie gelacht oder Unfug getrieben haben.

Mit meinem Messgewand war ich damals aber sichtlich stolz, auf der Hauptbühne ganz in der Nähe des Altars zu stehen.

Der Bruch mit der Kirche erfolgte nicht abrupt. Ich wollte meine Freizeit sinnvoller und spannender gestalten (zwei bis drei Messen pro Sonntag nahmen ein gutes Stück des freien Tages ein), die Predigten empfand ich zunehmend als austauschbar und langweilig und mit zirka 17 Jahre hat meine stärkere Leidenschaft gesiegt: Die Spiele unserer Fussballmannschaft wurden auf den Sonntagmorgen verschoben. Darauf wollte ich nicht verzichten, so einfach war das.

Neue Empfindungen

Kritischere Fragen zum (katholischen) Glauben und zur Kirche hatte ich nur in meinen späteren Teenager-Jahren. Fragen, die mir nicht umfassend bzw. zufriedenstellend beantwortet wurden, weil mir nicht auf Augenhöhe begegnet wurde. Während der Messe stellte ich zudem plötzlich fest, neue Empfindungen zu haben: Es könnte passieren, dass ich mich wegen einem Lied geschämt (und fremdgeschämt) habe, ich sang nicht mehr aus Überzeugung mit, öffnete nur meine Lippen und tat nur so.

Erst retrospektiv stellte ich fest, dass meine Glaubenspraktiken automatisch erfolgten, ohne viel zu reflektieren, meine Glaubensvorstellungen praktisch extrinsisch begründet waren, somit mittels Belohnung oder Bestrafung funktionierten.

Religion und Spiritualität haben in den folgenden Jahren eine weniger wichtige Rolle eingenommen. Ich würde nicht behaupten, dass meine Orientierungswerte im Leben nicht mehr christlich gefärbt waren, aber die Kirche als Ort der Versammlung und der Gemeinschaft war für mich nicht mehr zentral. Über Jesus und die Kirche zu sprechen fand ich auf alle Fälle nicht cool.

Talfahrt

Es musste ziemlich viel passieren, damit ich mich wieder für spirituelle Themen interessiert habe: eine für mich unerwartete Scheidung, körperliche Gebrechen, die wissenschaftlich nicht geklärt werden konnten und das Ende wichtiger menschlicher Beziehungen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass man wegen der Liebe so stark leiden kann. Ich hatte zuvor in meinem Leben nur Glück gehabt, davor verschont zu werden.

Der Schmerz hat meine ‚Ich-Zentriertheit‘ aufgelöst, meine Vernunft allmählich ausgeschaltet und mir einen Zugang zu einer neuen Gefühlswelt verschafft.

Ein halbes Jahr lang habe ich nur ein paar Stunden pro Nacht geschlafen, so viel geweint wie nie zuvor, bin depressiv geworden, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Einsamkeit und profunde Trauer empfunden, einen Suizidgedanken gehabt. Mein Leben hatte kein Fundament mehr und ich wurde psychisch labil. Ab diesem Zeitpunkt fing eine Zeit des Hinterfragens und Ausprobierens an, der Verwirrung und Verwirrtheit. Nach dem Trial & Error-Verfahren habe ich verschiedene Therapieformen, Praktiken, Philosophien und Optionen auf dem Glaubensmarkt der Religionen ausprobiert.

Ich wollte zum ersten Mal in meinem Leben Antworten zu spirituellen Fragen erhalten, intrinsisch motiviert.

Aus der Perspektive meiner Familie und meiner Freunde hat das wahrscheinlich so ausgesehen, als sei ich dem Wahnsinn nah. Und sie hatten wahrscheinlich recht. Für mich war es der richtige Weg. Nach mehr als zehn Jahre ist es schwierig, das Empfundene treffend und wahrheitsnah wiederzugeben. Aus heutiger Sicht kann ich auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, was ich in der Tat gelesen, erlernt oder tatsächlich erlebt habe. Die Grenzen sind fliessend.

Lebensgefüge

Aus mir unerklärlichen Gründen fand ich innerhalb des Schmerzes einen Kern voller Ruhe und Frieden. Ich fühlte mich irgendwie geborgen. Als würde es schon gut kommen. Ich liess das Leben ‚geschehen‘ und mich eher von ‚Zufällen‘ leiten: In einem Buchladen wählte ich ein Buch nur anhand des Covers aus und weinte dann am Strand, weil die Hauptfigur mir aus der Seele sprach. Die Kündigung meiner Arbeitsstelle erfolgte, nachdem Endo Anaconda (Stiller Has) während seiner Konzert-Performance sagte: «Ig ha nid wöue Todesaazeige drucke u bi när eifach gangge» und der Zufall wollte, dass ich auf dem Arbeitsplatz gerade mit einem ähnlichen Projekt zu tun hatte: Sterbensdaten aus Todesanzeigen ausfindig machen, damit die Adress-Datenbank aktualisiert werden kann. Ein Freund rief mir immer dann an, wenn ich zu Weinen anfing, als sei er irgendwie mit mir verbunden. Ich fand für drei Monate eine Unterkunft, nachdem ich in einer Disco intuitiv eine unbekannte Frau angesprochen hatte und anschliessend herausgefunden habe, dass sie ihre Wohnung untervermieten will. Ich fühlte mich wie der Steppenwolf von Hermann Hesse: Magisches Theater – Eintritt nur für Verrückte.

Brücken, Oasen und Räume der Stille

Ich habe es mit der Deutung der Zeichen übertrieben und viel zu viel meiner Persönlichkeit hinterfragt. Ein spiritueller Mentor/eine spirituelle Mentorin wäre notwendig gewesen. Ich hätte wahrscheinlich mehr leben als denken müssen.

Was sich aber fundamental verändert hat, ist meine allgemeine Einstellung zum Materialismus und zur beruflichen Karriere.

Ich bin anschliessend Vegetarier geworden, nicht von einem Tag auf den anderen und auch aus anderen Gründen. Mir sind die Meinung(en) und Urteile meines Umfelds nicht mehr so wichtig, solange ich glücklich bin. Ich gehe davon aus, dass die meisten Probleme, die wir heute haben, Kommunikationsprobleme sind. Ich kann das Göttliche nicht mehr personifizieren.

Ich empfinde zudem eine profunde Sympathie und Verbundenheit für Brückenbauer und für ganzheitliches Denken: christliche Mystik, Sufismus, Kabbalah und buddhistische Philosophie verstehe ich als unterschiedliche Wege mit demselben Ziel.

Vernunft und Emotion sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig. Wissenschaft und Religion können Hand in Hand gehen (siehe Quantenphysik). Altruistische Liebe soll mit der Selbstliebe harmonieren. Alles andere wäre verlogen.

In den westlichen Gesellschaften brauchen wir mehr Ruheoasen und Räume der Stille. Wir müssen neue Praktiken erlernen, um auch als emotionale Wesen befriedigt zu werden. Die Vernunft ist zu stark ausgebaut worden, es braucht eine Umkehr. Die göttliche Essenz (Liebe, Ur-Substanz, Energie, Zusammenfallen der Gegensätze, Matrix, morphisches Feld, Intelligenz, usw. jedem seine/ihre Definition) ist als Grundresonanz ewig präsent, wir könnten immer darauf zugreifen bzw. wir können uns dem nicht entziehen. Jedem seinen/ihren Weg: Yoga, Meditation, Gebet, Tanz, Musik: aber bitte mit Toleranz. Ich halte nicht viel von ‚einzige Wege zur Erlösung‘. Und schliesslich habe ich viele unbeantwortete Fragen.

Fragen

Wieso hatte ich dieses Bedürfnis nach dem ‚Göttlichen‘ erst in der Not? Nur weil ich sie/ihn brauchte? Weil nur die Intensität des Schmerzes mir meine Begrenztheit aufzeigen kann? Weil ich auf die Signale nicht zugreifen konnte, solange mein Ego dazwischenfunkte? Weil ich zu verkopft war? Musste aber der Ruf so drastisch und dramatisch erfolgen? Gab es keine sanftere Herangehensweise? Wieso suchte ich erst Rat in ‚exotischeren‘ Glaubenspraktiken? Weil das Christentum zu nah am Bewährtem war? Weil ich von meiner christlichen Vergangenheit nicht nur glücklich wahr? Weil meine christliche Erziehung zu naiv war? Wäre ich aber für die Spiritualität überhaupt empfänglich gewesen, hätte ich nicht eine christliche Grundlage bzw. Wertebasis gehabt? Ich weiss es nicht.

Und jetzt?

Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich wieder weiter weg vom Göttlichen bin. Nicht unbedingt emotional oder wertemässig, aber ich suche sie/ihn nicht mit derselben Intensität als damals. Ich ‚missioniere‘ weniger, muss nicht allen erzählen, woran ich glaube und wieso. Die zeitlichen Freiräume sind weniger geworden, die Vernunft ist zurückgekommen, das Ego wieder stärker geworden. Die vermeintliche Sicherheit meines Lebens ist zurückgekehrt. Ich vermisse den Schmerz nicht, ich vermisse aber die Intensität, wie ich das Leben ausgekostet und erlebt hatte.

Ich bin ein Glückspilz, in der Schweiz aufgewachsen zu sein. Ich würde mir aber wünschen, dass meine Tochter in einer Gesellschaft leben könnte, in der Spiritualität besser gepflegt wird. Dass sie konkrete spirituelle Praktiken im Alltag einbinden kann, die notwendigen Freiräume erhält. Eine utopische Gesellschaft? Inspirierend fand ich die Gedanken von Aldous Huxley in seinem letzten Roman «Eiland». Aber das wäre bereits ein Blog-Beitrag für sich wert.

7 Kommentare zu „Eintritt nur für Verrückte“

  1. Heidi Meier Huber

    Herzlichen Dank für deinen sehr persönlichen, eindrücklichen Text! Schön, dass es dir inzwischen wieder gut geht. Deine Erfahrungen können vielleicht auch anderen helfen auf Ihrer Suche nach Halt und Verwurzelung.

    1. Vielen Dank, Frau Meier Huber. Ich weiss nicht, ob meine Erfahrungen für andere hilfreich sein können. Ich fand es aber damals auf alle Fälle beruhigend, darüber zu lesen, was ich gerade empfand. Freundlich grüsst, Luca Zacchei

  2. missionarsstellung@mission-die-keine-mission-in-der-mission-sein-darf.org

    „Ich ‘missioniere’ weniger, muss nicht allen erzählen, woran ich glaube und wieso.“

    Noch nie hast Du soviel missioniert wie mit diesem Beitrag. Sympatisch! Go On!

  3. Schön, endlich ein Beitrag von dir Luca. Darauf hab ich lange gewartet. Und wie erwartet: Natürlich ein persönlicher, selbstreflektierender Beitrag. Sehr schön. Hat mir gut gefallen. Salutti Pietro Cancro

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