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Sibylle Lewitscharoff: «Der immerzu entflatternde Mensch»

Sibylle Lewitscharoff war eine gegenwärtige Unzeitgemässe. Gegen den herrschenden literarischen Realismus wetterte die Autorin mit fast biblisch-heiligem Zorn – und forderte vehement Auftritte von Engeln und sprechenden Tieren in der Fiktion. Ihren Zeitgenoss:innen wollte sie partout Dante und die Bibel aufschlüsseln.

Der Lewitscharoff-Sound

In Lewitscharoffs Werk, sogar in den literaturtheoretischen Schriften, finden sich unzählige ungewöhnliche und hinreissende Formulierungen und Wortschöpfungen. Anstelle eines Nachrufs mit obliatorischen Angaben – 1954 geboren in Stuttgart, 1998 Ingeborg-Bachmann-Preis, 2013 Georg-Büchner-Preis etc. – sind hier einige subjektiv ausgewählte literarische Blüten versammelt.

In ihrem stark biografisch gefärbten Erfolgsroman «Apostoloff» von 2010 kommt die Ich-Erzählerin, Tochter eines Exilbulgaren, auf einer Balkanreise zwischen wildem Schnattern und Zetern unvermittelt auf Gott zu sprechen:

«Gott meldet sich mal unwahrscheinlich leis, leiser als eine frisch geborene Amöbe (wir erraten’s nicht in hunderttauschend Menschenjahren), mal so laut, als wäre da oben Vatertag ausgebrochen (laut dann, trommelfellzerfetzend laut für Menschlein aller Couleur).»

Auf dem Rücksitz der Geschichte

Die Ich-Erzählerin des Romans hat ihren Vater durch Suizid verloren. Sie begibt sich mit ihrer Schwester im Land ihrer Vorfahren auf seine Spuren. Aus dem Off eines Autorücksitzes macht sich die Lieblingstochter des Exilbulgaren durch Schimpfen Luft. Dosierte Wut wechselt ab mit zarter Melancholie.

Auch Lewitscharoffs Vater stammte aus Bulgarien. Der Migrant liess sich in Stuttgart als Arzt nieder und nahm sich das Leben, als die Dichterin noch Kind war.

Das «Apostoloff»-Buch gehört einer Literaturgattung an, in der Katastrophen vorangegangener Generationen literarisch aufgearbeitet werden und bei der sich die Chance der fairen Behandlung vergangener Ereignisse und verblichener Angehöriger bietet. Komik erwächst in dem «Apostoloff»-Buch daraus, wie schwer dies der Ich-Erzählerin fällt.

Vorsicht Seele!

Zu Lewitscharoffs Wortschatz gehören Begriffe wie «angewundert» oder «Hierseits» als logisches Gegenüber des Jenseits‘. Über das etwas aus der Mode geratene Wort Seele schreibt die Dichterin, es sei ein «zartes Wort, gleichsam eins mit zerzausten Flügeln». Das Wort verleite allerdings zu exaltiertem, schwammigem Gebrauch: «Also bitte Vorsicht beim Verwenden».

Poetikvorlesungen in Zürich

Vor zehn Jahren erschienen Lewitscharoffs Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen unter dem Titel «Vom Guten, Wahren und Schönen». In Zürich war die Dichterin im Herbstsemester 2011.

Was Romane machen, erklärte sie in der Vorlesungsreihe so:

«Mit einem Haifischbiss reissen sie ein Stück aus der Zeit, schnappen sich ein Stück der zuhandenen Schöpfung und bearbeiten es nach Gutdünken, einzig dem Gesetz verpflichtet, dass ein möglicher Leser es verstehen muss.»

Die Prosa tut sich laut Lewitscharoff «mit dem Lob der zuhandenen, unvollkommenen Schöpfung schwer». Das Lob Gottes gar suche man in der modernen Erzählwelt vergebens.

«Einen starken befestigenden Sinn zu stiften, dazu hat die Prosa nicht die Kraft, weil sie sich gemäss ihrer Natur den Sinnwirren preisgeben muss und eher durch die geglückte Form einen Zusammenhalt wahren kann als durch Aussagen.»

Ein Kapitel in dem Buch ist der seltsamen Kraft von Namen gewidmet. Dank namentlicher Anrufung könne sich «der windige, sich selbst immerzu entflatternde Mensch» wieder in sich selbst versammeln. Über den Gottesnamen JHWE sagt die Schriftstellerin:

«Etwas von Ihm musste aus dem Inkommensurablen sich melden und vom Beter, der sich an Ihn wandte, ins Inkommensurable hinaufgerufen werden.»

Den Menschen charakterisiert Sibylle Lewitscharoff so:

«Wir sind eine Art Skizze mit Raum für neue Einträge».

Warum Dante?

Weshalb sie immer wieder auf den italienischen Dichter der «Göttlichen Komödie» zurückkam, legte die Schriftstellerin in dem 2021 erschienenen Essay «Warum Dante?» dar. Das Buch aus der bibliophilen Insel-Bücherei ist mit Collagen Lewitscharoffs illustriert. Die Schriftstellerin baute in verschiedenen Varianten Dantes Läuterungsberg aus Papier und anderen Materialien nach.

Sie ist fasziniert, mit welcher «Bestrafungsenergie» Dante anhand eines jeden «Leibfitzels» eines Menschen Höllenqualen durchexerzierte. Als Mensch, der mit einer chronischen Erkrankung geschlagen war (Lewitscharoff litt zuletzt an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium), war sie wohl im «Hierseits» mit höllischer Qual konfrontiert.

Hinreissende Aufflugmanöver

Lewitscharoff versenkt sich bei der Dante-Lektüre in unterschiedliche Aggregatzustände der Seele. Im Purgatorium, gemäss mittelalterlicher Vorstellung ein Reinigungsort, beobachtet sie «verängstigte Luftkörperlein». Es sei dort immerhin etwas besser als im Inferno.

Das Paradiso und die «Aufflugmanöver» dorthin charakterisiert die Dichterin hinreissend: «Der Schwirniss der Seelen» sei im Paradiso eine «besondere Duftigkeit beigegeben – leicht sind sie, wie sie da so herumsegeln», schreibt Lewitscharoff.

Herumschwirren zum Lobe Gottes

«Die Körper erfahren eine perfekte Leichtigkeit, einen herrlichen Schwung, weil sie von keinerlei zehrenden Gedankentumulten mehr in Beschlag genommen sind. Da beginnt ein Sehen und Schweben, der Zustand der nahenden Glückseligkeit setzt in ihren Aufflugmanövern ungeheure Schwingungen frei.»

«Je freier, je luftiger, je konsistenzloser, gereinigter, entzückter die Toten in ihren Gesängen zum Lobe Gottes erscheinen, je mehr ihre Leiber am Segen partizipieren, desto unbeschwerter werden sie in ihrer Beweglichkeit, die zwar den eigenen Wünschen zu entspringen scheint, aber zugleich von höherer Warte aus zu ihrer bestmöglichen Hut gelenkt wird.»

Die Dichterin hielt bis zuletzt Hof

Eine geplante theologische Studientagung mit Sibylle Lewitscharoff vergangenen November in Bern sollte sich letzten Fragen widmen. Lewitscharoff plante, zur Eschatologietagung in die Schweiz zu reisen. Dann erlitt sie einen weiteren Krankheitsschub und liess Email-Nachfragen unbeantwortet.

Zuletzt war sie ans Bett gefesselt. Ihren schwarzen Humor («Es sind schließlich nur die Beine, nicht der Kopf») und ihre Geselligkeit aber verlor sie nicht.

Tilmann Krause von der «Welt» nennt die Dichterin in seinem Nachruf ein «Monument der Unverwechselbarkeit». Lewitscharoff habe in Berlin ihr Protestanten- und Schwabentum zelebriert. In ihrer geräumigen Stadtwohnung habe sie «bis fast ganz zuletzt» Hof gehalten, täglich bis zu 14 Freundinnen und Freunde empfangen und sich an mitgebrachten Leckereien erfreut.

Zuletzt habe sie keine Gänseleberpastete mehr vertragen und keinen Champagner getrunken, aber es genossen, wenn Freunde es sich rings um ihr Bett schmecken liessen.

 

Die Zitate in diesem Beitrag entstammen folgenden Büchern von Sibylle Lewitscharoff:

«Apostoloff», erschienen bei Suhrkamp

«Warum Dante?», Insel-Bücherei Nr. 1503 (Suhrkamp)

«Vom Guten, Wahren und Schönen», Suhrkamp

 

Foto: Sibylle Lewitscharoff im August 1999, Wikimedia Commons 

3 Kommentare zu „Sibylle Lewitscharoff: «Der immerzu entflatternde Mensch»“

  1. Manfred Reichelt

    «Einen starken befestigenden Sinn zu stiften, dazu hat die Prosa nicht die Kraft, weil sie sich gemäss ihrer Natur den Sinnwirren preisgeben muss und eher durch die geglückte Form einen Zusammenhalt wahren kann als durch Aussagen.» Dieses Zitat von ihr, finde ich bemerkenswert, da ich mich in meiner Jugend auch in Prosa versucht habe.

  2. Karl-Heinz Barthelmes

    RAUHHAARDACKEL – kafkaesk

    Sibylle Lewitscharoff kannte neben Bibel und Dante eben auch Franz Kafka aus dem Effeff, den sie laut eigener Mitteilung zeitweilig seitenweise als Stilübung abgeschrieben habe…
    Auf meine Applausmail zu ihrem NZZ Artikel vom 19.12.2020 antwortete sie (E – Mail -) postwendend umgehend mit ihrem un verbrüchlichen schwäbisch-protestantischen Humor mit „Rauhhaardackel“ :
    „… das ist wieder einmal sehr liebenswürdig von Ihnen. Ruhestand am Vierwaldstättersee klingt irgendwie formidabel, ich hoffe, Sie können auch schwimmen! Ich kann zwar schwimmen, aber nicht so sonderlich gut. Vor langer Zeit war ich mal in einem Stuttgarter Thermalbad sozusagen „schwimmend“ unterwegs. Vom Rand des Beckens aus feixte da ein alter Herr in tiefstem Schwäbisch: „Ha, do schwimmet ja meine Rauhaardackel besser!“ Ich mußte derart lachen, daß ich eine Menge Wasser verschluckt habe. (Ich hatte mal einen Rauhaardackel, und der schwamm tatsächlich recht flott.) Also – Schwimmen solàlà, Kastenturnen entsetzlich! Barrenturnen entsetzlich! Zu meiner Ehre sei jedoch hinzugefügt, daß ich am Tischtennistisch ’na flotte Nummer abgab. Trickreiches Schneiden – kein Problem!
    Mein Ruhestand gestaltet sich derzeit so, daß ich einige hübsche Objekte für ein neues „Pong“-Bändchen gefertigt habe, das im nächsten Frühjahr erscheinen soll. Bin so voller Stolz, daß ich es mir nicht verkneifen kann, Ihnen Bildchen davon zu schicken.

    Schöne Weihnachten und schöne Seespaziergänge wünscht Ihnen – Ihre Sibylle Lewitscharoff“.

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