Corona hat mich zu einem schlechteren Menschen gemacht: Ich bin bei Verwandten und Freunden weniger präsent, husche durch das Treppenhaus und halte mich bei Konversationen mit den Nachbaren kurz. Auf dem «Arbeitsplatz» bin ich nervöser, überstehe Zoom-Sitzungen, die über 2 Stunden dauern, mit Müh’ und Not.
Als nörgelnder Ehemann stehe ich zuhause meiner Frau häufiger auf die Füsse und als Vater bin ich auch ungeduldiger geworden.
Nachdem ich stundenlang mit meiner Tochter gespielt habe, mag ich nicht mehr und setze sie vor dem Fernseher. Beim ersten Lockdown gingen wir mehr nach draussen, das schöne Wetter spielte mit, wir fanden bessere Auswege, um uns zu bewegen. Und ich war positiver auf die neue Situation eingestellt. Jetzt gebe ich aus Mangel an Alternativen zermürbt vorher auf.
Die kommunikative Koordination des Arbeits- und Familienlebens ist, auch durchs Home-Office bedingt, fragmentierter geworden. Sie läuft simultan und auf verschiedenen Kanälen: WhatsApp (jetzt auch Signal, bei einigen Threema), E-Mails, Sprachnachrichten und Anrufe.
Dazu kommt eine Informationsüberlastung, die zum Teil selbstverschuldet ist: was die aktuell geltenden Corona-Bestimmungen betrifft, möchte und muss ich auf dem Laufenden sein.
Abends werde ich apathisch und gucke mir Netflix-Serien an, als würde ich wenigstens durch diese Bilder wieder ein Stück «Normalität» finden: Menschenansammlungen, sich umarmende Freunde, lachende und unmaskierte Gesichter.
Bin ich depressiv?
Ich versuche die Idee einer Depression abzuwehren. Es ist nicht schön, zugeben zu müssen, an einer Grenze angelangt zu sein. Es ist aber nicht so, dass ich keine Energie hätte oder mich zwischen Optionen nicht entscheiden könnte. Ich habe eher das Gefühl, das Leben würde sich aufstauen.
Der Antrieb fehlt nicht, sondern die Fläche, worauf sich das Leben abbilden könnte.
Handelt es sich um eine neue Ausprägung von Depression? Leide ich an unverbrauchtem, hinausgezögertem Leben?
Gut gemeinte Ratschläge
Ich habe Einiges ausprobiert: Yoga-Lektionen für zuhause, ein Netflix- und Disney-Abo als Ablenkung, den Arbeitsweg zu Fuss gehen. Ja, es tat gut. Und Corona hat seine gute Seiten. Das Leben dreht weniger schnell, in Jogging-Hosen zu arbeiten ist OK. Und trotzdem fühle ich mich nicht ausgeglichen.
Ich kann es betrachten, wie ich will: ich übe Überlebensstrategien mit kompensativem Charakter aus. Diese versuchen, das frühere Leben zu ersetzen.
Kollateralschäden
In den Medien spricht man bereits von «Kollateralschäden» der Pandemie. Der Militärjargon meint: bei einer Aktion entstehender Schaden, der nicht beabsichtigt ist und nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel der Aktion steht, aber dennoch in Kauf genommen wird. Oder in diesem Fall: in Kauf genommen werden muss.
Wir müssen gemeinsam die Pandemie bekämpfen, das geht aber nur mit zusätzlichem Schaden: Klein -und Mittelunternehmen, die Konkurs gehen. Menschen, die allein trauern müssen. Kranke Leute, die nicht mehr besucht werden können. Kinder, die ihre Grosseltern nicht mehr sehen dürfen. Familien, die auf engerem Raum mehr streiten. Psychisch vorbelastete Menschen, die von der Pandemie stärker betroffen und suizidal werden.
Blinder Fleck
Nebst den vielen Corona-Opfer gibt es somit Leiden, das nicht in die Statistik kommt und Schäden, die sich erst in Jahren bemerkbar machen werden: den gesellschaftlichen Umgang mit Risiken und Viren im Allgemeinen, die unbeabsichtigten psychologischen Folgen der Pandemiebekämpfung bei Kindern und Jugendlichen, die Angst vor Berührungen und Menschenansammlungen. Corona ist definitiv ein Lustkiller und wird uns noch Jahren beschäftigen, ob wir möchten oder nicht.
So what?
Und was soll nun dieser Blog-Beitrag bringen? Nun, ich wollte das mal loswerden. Sorry, das war egoistisch von mir. Corona hat mich definitiv zu einem schlechteren Menschen gemacht. Schuldig im Sinne der Anklage. Ich akzeptiere das Verdikt und gehe in meine Lebenszelle zurück 😉
P.S.: Wie Selbstsorge in der Pandemie geht, hörst du hier. Und Ratschläge findest du in Evelynes Blog und in der aktuellsten Konvers-Folge. Stay safe!
Photo by Hello I’m Nik 🎞 on Unsplash
4 Gedanken zu „Oh, my Corona!“
Nein Luca – du bist definitiv kein schlechterer Mensch geworden!
Du hast nur den Mut, das anzuschauen, was schwer fällt wahrzunehmen.
Ich verstehe, dass es für viele einfacher ist, diese Kollateralschäden weder zu wissen, noch sie bewusst zu realisieren. Denn dies kann ebenso Angst machen, wie die Angst vor dem Virus.
Und doch kommen wir, auf längere Sicht hinaus, nicht darum herum diese unangenehme Seite der Pandemie und die Folgen von Corona-Massnahmen zu sehen und sich gewissen Fragen zu stellen.
“Nicht der Antrieb fehlt, sondern die Fläche, worauf sich das Leben
abspielen könnte.” Du bringst so viele Sätze und Gefühle, die wohl nicht nur mir aus dem Herzen gesprochen sind, sondern auch anderen. Darum Danke!
Wir brauchen einen langen Atem – es gibt keine einfachen Lösungen, doch die Menschenwürde als freie Menschen dürfen wir nicht preisgeben.
Lieben Gruss Verena
Liebe Verena, vielleicht wäre die Formulierung “ein Mensch, der schlechter handelt” besser gewesen. Ich bin auf alle Fälle “dünnhäutiger” geworden und reagiere auf Situationen, die unter normalen Umständen tragbaber wären, viel extremer. Ich wünsche dir ebenfalls viel Ausdauer! Ciao, Luca
So stimmig formuliert-solche Fragen beschäftigen viele, auch mich. Für einen Moment fühle ich mich verstanden
Vielen Dank, Herr Josuran!