Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 4 Minuten

Sonst ist es ja kein Geheimnis mehr

Ich, etwa 9 Jahre alt, bin tief erschüttert. Da an Karfreitag keine Sonntagschule ist, sitze ich im Gottesdienst. Und was ich da in der Predigt höre, treibt mir die Tränen in die Augen. Diese Brutalität! Das Kreuz als Folter- und Tötungsmethode zugleich. Und Jesus, der diesen Tod freiwillig auf sich nahm. Für mich. Wieder zu Hause, mache ich einen Eintrag in meiner Kinder-Ausmalbibel, unter dem Bild des gekreuzigten Jesus, mit dem Datum und ein paar dankbaren, berührten Worten.

Ein Geständnis

Dass Karfreitag und Ostern etwas mit mir persönlich zu tun haben, habe ich nie mehr so tief und so direkt empfunden. Zwar habe ich auch diesen Karfreitag Tränen vergossen. Grund dafür war aber, ich gestehe, weder das blutige Jesusfilm-Foto, das eine christliche Instagramerin gepostet hat, noch die Hörbibelversion von Johannes 18-21 mit der Gefangennahme, Verurteilung und Kreuzigung von Jesus, die ich mir anhörte. Sondern, dass ich die Halskette meiner Urgrossmutter mit dem Kreuzanhänger, die ich seit zwei Jahren jeweils an Karfreitag trage, nicht mehr finden kann. Ist das schon Blasphemie?

In der letzten Wochensitzung mit dem RefLab-Team sprachen wir darüber, warum viele von uns Ostern nicht speziell wahrnehmen. Liegt es an Corona? An fehlenden Gottesdienstbesuchen? Oder schlicht und einfach daran, dass es immer wieder dasselbe ist? Ich selber versuche Jahr für Jahr, der Bedeutung von Ostern für mich auf die Spur zu kommen. Da ich keine regelmässige Kirchgängerin bin (in Coronazeiten ohnehin nicht mehr), ist mein Osterprogramm jeweils nicht fest organisiert und orchestriert. Ich besuche einzelne Gottesdienste bzw. schaue mir Online-Andachten an. Ich höre Podcasts und lese Artikel, welche Kreuzigung und Auferstehung theologiegeschichtlich einordnen, und lese die entsprechenden Texte in der Bibel nach.

Gott schweigt

Es gibt die sensationelle Komposition «Punctum» von Caroline Shaw, wo das Streichquartett zuerst zu üben scheint, Andeutungen macht und sich die einzelnen Stimmen dann unerwartet verdichten zu einem unheimlich starken Moment. Hören Sie sich das Stück an – Sie werden merken, was ich meine. So geht es mir in den Ostertagen jedes Jahr: Ich strecke suchend intellektuelle und emotionale Fühler in alle Richtungen aus.

Ich folge losen Fäden und hoffe auf den Moment, in dem alles endlich Sinn ergibt.

Ich hole den grossen Caravaggio-Bildband aus dem Regal und stelle ihn kurz darauf wieder zurück. Die Darstellungen von Verhaftung und Dornenkrönung Christi wirken zwar lebendig, aber steril. Ich scrolle durch Instagram und die grafischen Interpretationen der biblischen Botschaft von Scott Erickson, finde sie toll, wie alle aus meiner Theo-Bubble gerade. Per Sprachmemo und Telefon frage ich eine Handvoll Menschen, ob sie mir in fünf Minuten Ostern erklären können, was zu ein paar guten Gesprächen führt. Ich bete, höre Musik, habe ein halb-schlechtes Gewissen, am Karfreitag wandern zu gehen. Dafür verzichte ich auf den Gin Tonic, der mir am Abend angeboten wird.

In den Ostertagen bin ich richtig religiös. Doch Gott schweigt.

Anders als im Musikstück «Punctum» kommt er meistens nicht, dieser sehnsüchtig gesuchte Moment, in dem ich von einer starken, ja, höheren Macht berührt werde. Was aber dennoch kommt, ist der Ostermorgen. Die Auferstehung.

Eintauchen in das grosse Geheimnis

Und das ist ja auch eine spirituelle Erkenntnis. Dass es vollbracht ist. Ohne mein Zutun, ohne jegliche Religiosität meinerseits. Es betrifft mich zwar irgendwie, aber ich bin nur ein ganz winziger Teil eines grossen Ganzen. Als Gott in Jesus Christus Mensch wurde, starb und wieder auferstand, muss etwas einmaliges geschehen sein: ein kosmisches Erlösungsgeschehen.

Ich entschuldige mich, wenn das fast zu mystisch klingt. Aber ich ahne langsam, dass das Ostergeschehen in seiner vollen Bedeutung gar nicht fassbar ist. Kognitiv lässt sich Ostern nicht erschliessen, und der Cliffhanger, da hat mein RefLab-Kollege Stephan Jütte recht, ist eigentlich gar keiner. Alle persönlichen, theologischen und künstlerischen Interpretationen sind Facetten einer Wahrheit, die grösser ist als wir. Das erklärt auch, weshalb die Kirche so viele sinnliche Zugänge zu diesem Fest hat: Die Fastenzeit, berührende Musik, liturgische Farben, Ostergärten, Kreuzwege.

Vielleicht kann ich also mein suchendes Herumirren nächstes Jahr mal lassen. Ich muss Ostern nicht in mir erzeugen. Sondern kann mir bloss vergegenwärtigen, dass ich irgendwie teilhabe an diesem heiligen Geheimnis, und mich darauf einlassen.

Seit ein paar Jahren radle ich am Ostermorgen jeweils ganz früh mit einer Freundin zur kleinen Kirche am See, von wo aus man die Berge sieht. Wir sitzen dort eine Weile und wärmen uns am mitgebrachten Tee. Betrachten die feinen Farben vor dem Sonnenaufgang, wie die Bergspitzen rosa werden, schauen den Haubentauchern zu. Und dann nehmen wir ein Bad im eiskalten See. Genau in dem Moment, in dem die Sonne aufgeht – und mit ihrer gewaltigen Kraft alles um uns herum verändert.

 

Meine suchenden Oster-Blogposts der letzten Jahre:
2018 https://evelynebaumberger.ch/kann-mir-bitte-mal-jemand-ostern-erklaeren/
2019 https://evelynebaumberger.ch/ostern/
2020 https://www.reflab.ch/zwei-tage-aushalten/

Foto: Travis Walser, Unsplash

7 Kommentare zu „Sonst ist es ja kein Geheimnis mehr“

  1. Jürgen Friedrich

    Das „suchende Herumirren“ berührt mich. Denn seit Jahren fühle ich mich gut aufgehoben, weil ich gefunden habe, dass die Berufs-Christen, Erwerbs-Beter und Religions-Beamten fälschlicherweise von Auferstehung reden, wo in Wahrheit eine Wieder-Auferstehung zu würdigen ist.
    Auferstanden sind sämtliche Lebewesen zu Lebzeiten. Die Verherrlichung Gottes durch Jesus fand statt vor seinem Kreuzestod, als er – wie sämtliche Lebewesen – auferstanden war aus toten Atomen.
    Die Verherrlichung von Jesus fand statt durch Gott nach seinem Kreuzestod durch die Wieder-Auferstehung

  2. Christine Mösch

    Nachtrag:
    Vielleicht war die Menschwerdung Gottes durch Jesus das eigentliche Opfer und nicht sein Tod, sondern dieser war die Konsequenz seiner Gradlinigkeit, Unbestechlichkeit, der unaushaltbaren Irritation durch seine Liebe und sein Handeln. So gesehen wäre Karfreitag auch eine Einladung an uns, unsere Herzenshaltung zu überprüfen.

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